Über koreanische Stimmen und den Wettbewerb NEUE STIMMEN
Francisco Araíza ist ein Tenor der Welt-Klasse, lehrt als Professor an der Musikhochschule Stuttgart, ist Dozent am Opernstudio Zürich – und Jury-Mitglied des Internationalen Gesangswettbewerbs NEUE STIMMEN der Bertelsmann Stiftung. Er kennt die Nachwuchsarbeit an Musikhochschulen in vielen Ländern und engagiert sich für junge Talente.
opernnetz: Bei den NEUEN STIMMEN 2009 belegten drei junge SängerInnen aus Korea mit beglückend ausdrucksstarken, technisch nahezu perfekten Stimmen die ersten drei Plätze. Woher kommt die Dominanz dieser Stimmen? Ist die koreanische Sprache möglicherweise eine optimale Voraussetzung für den Opern-Gesang (so wie Birgit Nilsson die schwedische Sprach-Melodie einst für die Erfolge schwedischer SängerInnen verantwortlich machte)? Oder gibt es an koreanischen Schulen und Hochschulen ein Geheimnis exzellenter (Grund-)Ausbildung?
Francisco Araiza: In der Tat bin ich der Meinung, dass die jeweilige Sprache eine ganz große Rolle spielt. Die koreanische Sprache weist alle Charakteristika der mediterranen, südländischen Sprachen auf: vokalbetont, melodisch, im Kern explosiv, ohne Gewicht auf den Kehlkopf und nicht nasal, also eine sogenannte natürliche Sprache. Auch ihr Temperament und Humor tragen dazu bei, dass die Koreaner als „Lateiner des Orients“ gelten. Zudem sind sie ein „singendes Volk“. Sie singen einfach immer und gern und zu allen möglichen Anlässen, so ist das Karaoke-Singen eine Art Nationalsport.
In der Ausbildung besitzt die Musik einen großen Stellenwert, denn bereits im Kindergarten fangen die Kinder an Klavier zu spielen und intensiv zu musizieren, insbesondere aber zu singen, und zwar frei zu singen! Nicht säuseln! Das wird bis zur Highschool fortgesetzt. Außerdem gibt es eine ganz große Anzahl an Musikuniversitäten.
Von besonderer Bedeutung ist die musikalische Aktivität in der Kirche, sowohl der evangelischen als auch der katholischen, denn jede Kirche hat einen großen Chor, der wiederum unterteilt ist in Kinder-, Jugend- und Erwachsenenchor. Die Proben sind intensiv und die Mitwirkung in den Gottesdiensten anspruchsvoll, denn es werden auch große Werke der Kirchenmusik aufgeführt, in der Kirche, aber auch bei Orchesterkonzerten.
opernnetz: Sie sind selbst Professor an der Musikhochschule Stuttgart. Es wird gesagt, dass die koreanischen Studierenden nach ihrem Bachelor in Korea entscheidenden Vorsprung gegenüber ihren deutschen KommilitonInnen haben. Was sind denn diese „besseren Qualifikationen“? Das können doch nicht nur intensiv erarbeitete theoretische Kenntnisse sein - da müssen doch auch gesanglich-praktische Ausbildungsfaktoren eine Rolle spielen. Gibt es da Defizite an deutschen Musikhochschulen?
Indiskret gefragt: Wie viele Semester-Stunden praktischen Gesangs werden den Gesangs-Studierenden an deutschen Musikhochschulen verpflichtend angeboten?
Francisco Araiza: Man kann sagen, dass die Koreaner große, robuste, kernige und triumphierende Stimmen bevorzugen. Sie haben außerdem großen Spaß am Forschen, insbesondere Ton- und Videodokumente von großen und bedeutenden Sängern werden ausgiebig analysiert, untersucht und diskutiert. Dazu kommt noch eine große Freude am Experimentieren.
Mittlerweile haben sie auch sehr gut ausgebildete Professoren, die in Europa oder Amerika eine erstklassige Ausbildung gehabt haben und mit diesem Knowhow eine besser ausgebildete Generation an Sängern herausbringen. Besonders hervorzuheben ist die Tatsache, dass koreanischen Studenten ständig geprüft werden: Sie müssen nach jedem Semester eine Prüfung ablegen und innerhalb des Semesters einen Auftritt haben.
Eines dürfen wir jedoch nicht außer Acht lassen, nämlich die Tatsache, dass alle drei Preisträger der NEUEN STIMMEN 2009 ihre Gesangsausbildung in Deutschland absolvieren: Die Gewinnerin des ersten Preises studiert in Mannheim, der Gewinner des Zweiten in Hamburg und der Gewinner des Dritten in München. Insofern kann ich keine großen Defizite in den Ausbildungsprogrammen der deutschen Musikhochschulen konstatieren. Bei uns in Stuttgart werden beispielsweise, je nach Semester, zwischen 28 und 36 Semester-Stunden verpflichtend angeboten, also zweimal die Woche.
opernnetz: Neben den NEUEN STIMMEN gibt es im deutschsprachigen Raum nahezu unüberschaubar viele Wettbewerbe in Sachen Operngesang. Was macht die unbestreitbare Qualität der NEUEN STIMMEN aus – sind es die weltweiten Auswahl-Verfahren? Ist es die intensive Begleitung vor Ort? Ist es die nachhaltige Begleitung der SängerInnen auch nach dem Wettbewerb? Und wie schätzen Sie die Erfolge ein - für die Karrieren der jungen Talente, für das sängerische Niveau weltweit - und für die musikalische Weiterentwicklung der Oper als ästhetisches Gesamt-Kunstwerk?
Francisco Araiza: Die Qualität eines jeden Wettbewerbs steht und fällt mit der Auswahl der Jury, die richtige Besetzung muss hochqualifiziert, angesehen, erfahren und fair sein. Bei den NEUEN STIMMEN erfreuen wir uns über einen nahezu idealen Fall. Natürlich spielen die Preisgelder und zusätzliche Preise auch eine wichtige Rolle. Dazu kommt die Vernetzung und Betreuung der Preisträger nach dem Wettbewerb, wir erproben diesbezüglich verschiedene Modelle, wie zum Beispiel ein Mentorenprogramm. Auch die Beratung aller Jury-Mitglieder mit den TeilnehmerInnen, die keine Preise bekommen, ist von besonderer Bedeutung für diesen Wettbewerb.
Von höchster Wichtigkeit ist aber auch die Konzeption und die Philosophie des Wettbewerbs. Bei den NEUEN STIMMEN basiert diese auf dem Anspruch: Die Besten unter den Besten in der jeweiligen Generation auszumachen und zum Finale nach Gütersloh einzuladen. Dieses Konzept hat sich über die Jahre bewährt und wird bestätigt durch die Tatsache, dass einige Weltkarrieren bei den NEUEN STIMMEN ihren Anfang genommen haben. Dazu zählen Vesselina Kasarova, Roman Trekel, René Pape und viele andere. Natürlich braucht man dazu besondere Spezialisten, die die Welt bereisen auf der Suche nach eben diesen Talenten, ebenso wie ein perfekt geführtes Organisationsteam, das im Fall von NEUEN STIMMEN in den Händen von Frau Ines Koring liegt.
Zusammenfassend kann ich sagen, dass die NEUEN STIMMEN ein Wettbewerb ist, der hohes Ansehen genießt. Die Preisträger sind froh und stolz, sich als solche zu erkennen zu geben und als Botschafter für den Wettbewerb aufzutreten. Und wir sind hoch erfreut über das Niveau der Teilnehmer und leisten unseren Beitrag für die musikalische Weiterentwicklung der Oper als ästhetisches Gesamtkunstwerk mit den Meisterklassen der NEUEN STIMMEN, die immer im Jahr zwischen den Wettbewerben stattfinden.
(Die Fragen stellte opernnetz-Herausgeber Franz R. Stuke)
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