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BACKSTAGE

3 FRAGEN-3 ANTWORTEN


KIRSTEN HARMS

ist Intendantin der Deutschen Oper Berlin. Sie antwortet gemeinsam mit Chefdramaturg Andreas K. W. Meyer.


 
 

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Respighi in Berlin

Die Deutsche Oper Berlin gräbt eine vergessene Oper aus den Anfängen des Zwanzigsten Jahrhunderts aus. Ottorino Respighi ist nur noch Eingeweihten bekannt, seine Oper Marie Victoire wurde erst 2004 in Rom uraufgeführt. Sie ist sicherlich ein Dokument für die spektakuläre Inkubations-Periode des Musiktheaters, aber inhaltlich auf dem Niveau der damals gängigen Gesellschaftsromane, ideologisch rückwärtsgewandt und musikalisch ein Monstrum des Eklektizismus (opernnetz).

Anmerkung Kirsten Harms/Andreas K. W. Meyer: Das Libretto ist ideologisch nicht rückwärts, sondern vorwärts gewandt:

- Es zeigt am Beispiel des Gärtners Cloteau, dass die Guillotine keinen gesellschaftlichen Fortschritt bringt. Hätte man das 1917ff. in Russland und 1933ff. in Deutschland gewusst, wären dem 20. Jahrhundert einige Katastrophen erspart geblieben.

- Es zeigt am Beispiel Simons, dass gesellschaftlicher Fortschritt notwendig ist.

- Es zeigt am Ende, dass wir leider immer noch nicht wissen, wie er zu bewerkstelligen ist. Damit nimmt es eine Erkenntnis voraus, zu der wir im Grunde erst heute gelangt sind. Seine „Ideologie“ ist, dass es Ideologen misstraut, solchen, die zu wissen vorgeben, „wie es geht“.

- Etwa im Gegensatz zu Giordanos Andrea Chenier verzichtet Marie Victoire bewusst auf die Installation von Helden – das jeweils eigene Scheitern der Individuen auf der Folie ihrer unterschiedlichen Ideale (bis hin zur großen Lebenslüge der Titelfigur) lässt Menschen des 20. Jahrhunderts in all ihrer psychologischen Zerrissenheit durchscheinen. Selbst das vermeintliche „happy end“ entpuppt sich als allenfalls vom Rezipienten kurzschlüssig projiziert; diese Menschen sind gebrochen – die Zeit ist über sie hinweggefegt.

Marie Victoire ist auch musikalisch kein Monstrum, sondern ein Wunder an kompositorischer Intelligenz. Es verwirklicht in einer minuziös austarierten und dramaturgisch genial geerdeten Konstruktion einen Stil-Pluralismus, der die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen Klang werden lässt wie erst 50 Jahre später wieder Bernd Alois Zimmermann. Die Musik wendet sich gegen die banale Vorstellung, dass zu einer Zeit immer nur ein Stil zu herrschen habe und macht zum ersten Male Ernst mit der Erkenntnis, dass es zu jeder Zeit Altes, Neues, Fortschrittliches, Konservatives gleichzeitig gegeben hat. Marie Victoire totalisiert nicht, sondern macht die Vielstimmigkeit einer Epoche hörbar.

Dies gilt auch für den Stoff, der in seiner Typen-Vielfalt, in der Kraft der Erfindung, der Schilderung, in der Qualität und Differenziertheit des Denkens und der Sprache die „gängigen Gesellschaftsromane“ weit überragt.

Opernnetz: Was ist so bemerkenswert an der Respighi-Musik, dass seine Oper von der Deutschen Oper mit erheblichem Aufwand produziert wird? Wird es im Zusammenhang mit der Marie Victoire Konzerte mit orchestraler Respighi-Musik geben?

Kirsten Harms/Andreas K. W. Meyer: Es ist die einzige Oper dieser Zeit, die die Polyphonie, die Stimmenvielfalt einer Epoche musikalisch in einem pluralistischen Kompositionsverfahren einfängt. Zweiter Teil der Frage: Nein.

opernnetz: Das Sujet der Marie Victoire ist eine klischeehafte Love-Story zu Zeiten der Robespierre-Diktatur: Gibt es da irgendeine Affinität zu heutigen Problem-Strukturen - und welchen Bezug hat das Stück überhaupt zur menschlichen und sozialen Dramatik der Französischen Revolution? Wie wird das in der Dramaturgie der Produktion der Deutschen Oper verarbeitet?

Kirsten Harms/Andreas K. W. Meyer: Es ist keine klischeehafte Love-Story, sondern die Geschichte einer äußerlich erzwungenen Entwicklung mit weit in die individuelle Zukunft reichenden gesellschaftlichen Folgen. Aber dieses Thema ist nur eines von sehr vielen aktuellen Themen, die das Werk ebenfalls zur Sprache bringt: Legitimität revolutionärer Gewalt zum Zwecke der Veränderung; kann man sich der politischen Wirklichkeit entziehen (1. Akt)?; wie verhält man sich im Angesicht des Todes? usw.

Die Inszenierung wollte den Zuschauer nicht bevormunden und hat es darum unterlassen, das Stück etwa in Abu Ghraib, Amstetten oder Kuba spielen zu lassen. Es ging darum, Vorgänge, Motive, Charaktere aus ihrer gegebenen Situation in einem Gleichnis deutlich zu machen und dem Zuschauer die Übertragung auf seine je eigene Lebens- und Erfahrungswelt zu überlassen.

Edmond Guiraud war ein exzellenter Kenner der Französischen Revolution. Fast alle Elemente des Librettos sind historisch belegt - einschließlich der unglaubwürdigsten und „kolportagehaftesten". Es ist eine präzise Analyse der menschlichen Reaktionen auf ein ungeheuerliches politisch-historisches Ereignis, das die Menschen zu extremen Reaktionen veranlasst und auch heute noch veranlassen würde. Dieses im Einzelnen hier nachzuzeichnen, würde den Raum sprengen. Die Aktualität des Stückes, der Musik besteht u. a. auch darin, zu zeigen, wie Menschen sich in Situationen, die sie überfordern, verhalten.

In der Dramaturgie der Produktion wurde das dadurch verarbeitet, dass man sich an analoge Erfahrungen zu erinnern versuchte, die man selber gemacht hat: Berlin nach dem Inferno des Zweiten Weltkriegs. Die Menschen richten sich in den Ruinen ein und versuchen dort weiter zu leben. Das war aber nur eine innere Orientierungsfigur, kein „Überbau“, der statt des eigentlichen Stückes inszeniert wurde.

opernnetz: Unverständnis und Protest durchaus „gutwilliger“ Besucher bestimmten die Gespräche nach der Premiere. Was wird es als kommunikative Aktivitäten im Vorfeld der kommenden Aufführungen geben? Und welches Signal sendet diese Stück-Wahl für die Perspektiven der nächsten Spielzeiten?


Kirsten Harms/Andreas K. W. Meyer
: So unterschiedlich kann Wahrnehmung sein. Tatsächlich machte sich bei der Premiere die Begeisterung bereits nach dem 2. Akt in spontanem Beifall Luft, der nicht nur der Protagonistin, sondern vor allem der mitreißenden Musik galt. Der Schlussbeifall dauerte 20 Minuten und war von Zustimmung und Enthusiasmus geprägt. Es war ein unbestreitbarer Erfolg für das Werk, der sich auch bei der rege besuchten Premierenfeier im voll besetzten Foyer sowie in zahlreichen Besucher-Kommentaren fortsetzte. Einige deutliche, aber aus meiner Sicht: wenige Buh-Proteste richteten sich gegen das werktreue Regiekonzept.

Als kommunikative Aktivitäten zur Erleichterung des Verständnisses dieses komplexen und doch leicht eingängigen Werkes hat die Deutsche Oper zunächst auf eine Inszenierung gesetzt, die es dem aufmerksamen Besucher ermöglicht, die Vorgänge in ihrer Differenziertheit nachzuvollziehen. Dem Werk wurde bewusst keine Verfremdung oder Brechung übergestülpt, die von dem Besucher Dechiffrierkünste verlangt hätte, um die „Deutung zu deuten“ und dadurch Aufmerksamkeit abzuziehen.

Sodann wird dem Besucher ein umfangreiches Programmbuch an die Hand gegeben, in dem er sich intensiv mit dem Libretto und der Musik beschäftigen kann.

Es gab im Vorfeld das Operncafé und die Opernwerkstatt. Und es gibt vor jeder Vorstellung eine Einführung.

Das Signal, das die Wiederentdeckungspolitik der Deutschen Oper aussendet: spielt und hört nicht immer nur die gleichen 50 Opern, sondern entdeckt die Opern der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder so, wie ihr die vergessenen Opern Monteverdis, Händels, Rameaus, Mozarts, Haydns, Puccinis wieder entdeckt habt. Das 20. Jahrhundert bestand nicht nur aus Puccini, Strauss und Schönberg. Es hält viele aufregende, unbekannte Erlebniswelten, Weltentwürfe, Querverweise bereit, die den Horizont öffnen und unser Denken aus „historischen“ Schablonen herausführen können.

(Die Fragen stellte Franz R. Stuke)

 

Backstage-Archiv

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