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BACKSTAGE

3 FRAGEN-3 ANTWORTEN


Aaron Stiehl

Aaron Stiehl inszenierte am Theater Görlitz Enjott Schneiders Vertonung von Gerhart Hauptmanns "Bahnwärter Thiel"


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Rezension "Bahnwärter Thiel"

 

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Ruhe im Wahnsinn

Am 28. Februar wurde am Theater Görlitz Enjott Schneiders Vertonung von Gerhart Hauptmanns "Bahnwärter Thiel" uraufgeführt (lesen Sie dazu bitte die Opernnetz-Rezension). Im Backstage-Interview äußert Regisseur Aron Stiehl Gedanken zu seiner Inszenierung.

Opernnetz: Die Thematik Gerhart Hauptmanns wirkt doch antiquiert. Was hat Sie an dem Schicksal des Bahnwärters Thiel fasziniert?

Aaron Stiehl: Am Schicksal des Bahnwärters Thiel faszinierte mich besonders seine Spannung zwischen seiner ersten Frau Minna und seiner zweiten Frau Lene. Ähnlich wie bei Wagner spaltet er die Frau in Hure und Heilige.
Das Thema ist keinesfalls antiquiert, sondern zeigt eines unserer Grundprobleme, die unabhängig von der Zeit sind: Unser Problem, mit Sexualität frei umzugehen; die zwei Pole des Menschen: Die Seele und der ihr verwandte Geist des Menschen auf der einen Seite, der Körper auf der anderen. Die Unmöglichkeit, ein Gleichgewicht zwischen den beiden Polen herzustellen. Thiel wird Lene hörig und hasst sich dafür, kann aber nicht aus seiner Abhängigkeit heraus. Als Reaktion darauf mystifiziert er seine verstorbene Frau Minna zur Heiligen und versucht sich dadurch von seinem "sündigen" Leben zu reinigen.

Opernnetz: Der Konflikt von Sexualität und Moral, verknüpft mit der Welt des Irrationalen und der unwirtlichen Realität legt doch die Verlegung ins Esoterische nahe. Sie haben sich dieser nahe liegenden Verirrung verweigert: Was ist Ihre "Botschaft" für uns hier und jetzt Existierende?

Stiehl: Die Botschaft des Thiel? Schwierige Frage... Thiel gibt keine Antwort, er stellt nur weitere Fragen. Gibt es einen Sinn im Leben? Wird man nicht am Leben irre? Gibt es eine Lösung? Gerechtigkeit?
Thiel wird am Ende irre an sich selbst, er hält die Spannung seines Lebens nicht mehr aus. Er flüchtet sich in seine Welt. Für niemanden mehr erreichbar. Er sitzt am Ende der Oper allein auf den Gleisen und liest dem toten Tobias aus seinem Sparkassenbuch vor - zu Klängen, die an Mozart erinnern. Ein seltsam ruhiger, fast versöhnlicher, friedlicher Schluss. Vielleicht ist Thiel in seiner jetzigen Welt sogar glücklich, wer weiß...
Was ist Realität? Für Thiel existiert eine andere, als bei der Dorfbevölkerung. Aber welche Realität ist die Richtige? Jeder lebt in seiner eigenen Vorstellung, in seiner eigenen Welt. Deshalb auch die Unfähigkeit zur Kommunikation miteinander.
So unglaublich das klingt, aber Thiel hat seine Ruhe im Wahnsinn gefunden. Innerhalb des Lebens gibt es keinen endgültigen Frieden, die Spannung ist in uns. Deshalb brauchen wir Kunst, Musik, um diese auszudrücken, zu verarbeiten. Wir Menschen wissen um das Ideal, können es aber nicht erreichen. Dies macht uns krank. Ein Trost liegt in der Musik, in der Natur.

Opernnetz: Die Arbeit an einem kleinen Haus wie in Görlitz stellt sicherlich besondere Anforderungen - was die personellen, organisatorischen, technischen, zeitlichen, kommunikativen Aspekte betrifft (dazu die Herausforderung einer Uraufführung): Wie haben Sie diese Situation erlebt?

Stiehl: Gerade in kleinen Häusern ist man wie in einer Familie aufgehoben, in Görlitz habe ich das besonders erlebt. Unglaublich, wie die Solisten mich aufnahmen. Der Chor des Hauses - exzellent! Die Beleuchtung und Technik, zu jedem gewinnt man ein besonderes Verhältnis. Alle sind mit dem Herzen dabei, keine Anonymität wie an großen Häusern.
Das spürt man dann auch bei der Aufführung. Dürfte ich eine Liebeserklärung abgeben, dann den Mitgliedern des Görlitzer Theaters! Übrigens verzichten ALLE auf 14 Prozent ihres Gehaltes, um den Chor und Teile des Orchesters zu erhalten, und somit das Theater in seiner jetzigen Form. Das nenne ich Solidarität. Wo erlebt man das sonst?

Bochum, 10.03.2004

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