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Fakten zur Aufführung 

SIEGFRIED
(Richard Wagner)
30. Mai 2015
(Premiere am 12. April 2015)

Oper Leipzig


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Emotionales Chaos

Vor zwei Jahren, anlässlich der Feierlichkeiten zum 200. Geburtstag von Richard Wagner, wurden in seiner Geburtsstadt Leipzig die Richard-Wagner-Festspieltage ins Leben gerufen, die nun zum dritten Mal auf dem Programm stehen. Parallel laufen in Leipzig viele Festivitäten anlässlich des 1000-jährigen Stadtjubiläums. So ist eine Menge los in der Stadt an der Pleiße. Und zum ersten Mal werden an drei aufeinanderfolgenden Abenden Rheingold, Walküre und Siegfried aufgeführt. Abgeschlossen werden die Festtage mit einer szenisch-konzertanten Vorstellung des Tannhäuser.

Fast anderthalb Jahre musste Leipzig auf den dritten Teil der Ring-Tetralogie warten. Die spannende Frage im Vorfeld war, wie würde das Regieteam um Rosamund Gilmore die Geschichte weiterentwickeln? Welche Rolle werden die mythischen Wesen spielen, die Gilmore im Rheingold und in der Walküre als beobachtende Protagonisten eingeführt hat. Gibt es einen Zeitensprung in der Konzeption, und wie wird das ganze musikalisch aufgelöst? Viele Fragezeichen im Vorfeld, die nach der Aufführung nicht alle aufgelöst sind.

Siegfried ist in dieser Inszenierung ein pubertierender, kraftmeiernder Teenager, der Antworten sucht auf elementare Fragen. Wer war sein Vater, wer seine Mutter? Und was ist mit Mime, den er lange für seinen Vater hält? Die zögerlichen Antworten des Zwerges stoßen ihn in ein emotionales Chaos. Liebe, Geborgenheit, das sind abstrakte Begriffe für ihn, doch genau danach sehnt er sich. Mime kann ihm das nicht geben. Und hier greift Rosamund Gilmore erstmals ins Geschehen ein. Für sie ist Siegfried Teil der mythischen Wesen, die versteckt in einem gartenähnlichen Feld das Geschehen beobachten und mit ausdrucksstarkem Tanz kommentieren. Sie nehmen direkter als im Rheingold oder in der Walküre am Geschehen teil. Statt aktiver Schmiedeszene Siegfrieds nur eine imaginäre Andeutung der Kraft: Das neu zusammengefügte Schwert Nothung wird ihm von den mythischen Wesen überreicht. Der ganze erste Aufzug wirkt karg und lieblos. Requisiten und Kostüme lassen auf die 1950-iger Jahre tippen, ein neuerlicher Zeitsprung im Vergleich zum Rheingold und zur Walküre. Doch die entscheidenden Interaktionen zwischen Siegfried und Mime einerseits und Mime und dem Wanderer in der Wissenswette andererseits bleiben blass und entwickeln nicht die Spannung und Dynamik, die die Musik suggeriert.

Mime und Siegfried beharken sich zwar, doch die notwendig aggressive Spannung bleibt aus. Auch der Wissenswette fehlt es an einer fühlbaren Intensität. Hier geht es um das Existenzielle, zumindest aber um Mimes Kopf. Und so plätschert der erste Aufzug ohne große Spannungsmomente vor sich hin. Das Gilmore aber Geschichten erzählen kann, sogar Märchen für Erwachsene, das zeigt sie im zweiten Aufzug. Fafner ist ebenfalls ein mythisches Wesen, ein Riesentroll, der sich reproduziert hat, und elf kleine Fafners versuchen wie ein triefendes Geschwür, Siegfried davon abzuhalten, den Hort für sich zu gewinnen. Die Szene ist großartig grotesk, bunt und schillernd. Als Siegfried Fafner tötet, und mit ihm auch die kleinen Fafners in den letzten Zuckungen liegen, kommt wieder das emotionale Dilemma des tumben Jünglings zum Vorschein. Wie ein kleiner Junge schmiegt er sich an den toten Riesen, wieder eine Vaterfigur, die nicht taugt. In dieser Situation weiß Gilmore Abhilfe zu schaffen. Ein großer, weißer Waldvogel erscheint, mehr Schwan als Vöglein, und nimmt Siegfried mit auf eine emotionale Reise, die ihn zu Brünnhilde führe soll. Dass dann noch drei weitere große weiße Waldvögel auftauchen, passt zu Gilmores kindlichem Hang zur Übertreibung.

Der dritte Aufzug gelingt dann fast zur ganz großen Wagner-Oper. Wanderer Wotan ruft Erda hervor, noch einmal will er das Schicksal wenden. Erda, wie schon im Rheingold mit den drei Nornen auftretend, wickelt ihn in seilartiges Tuch, aus dem er sich noch einmal befreien kann für seine letzte Mission, diesen ungeheuerlichen Jungen aufzuhalten. Die Geschichte ist bekannt. Siegfried zerschlägt Wotans Speer, dessen Macht ist endgültig gebrochen, und für den jungen Siegfried gibt es auf dem Weg zu seiner ersten weiblichen Eroberung kein Zurück mehr. Dass er sich auf dem Felsanstieg unsichtbar fürs Publikum einmal schnell umzieht, geschenkt. Das aber Brünnhilde auf dem Felsen jetzt im erotischen Negligé liegt, na ja. Hat Gilmore eigentlich vergessen, wie sie Brünnhilde am Schluss der Walküre auf den Felsen abgelegt hat? In voller Kampfmontur mit Lederkleid, Ledermantel und Stiefel. Wunderbare Metamorphose nach gefühlten 20 Jahren Schönheitsschlaf. Brünnhildes Erwachen ist mehr Geburt der Venus, ein erotisches Verlangen, dass den pubertierenden Knaben ganz schön überfordert. Das wäre alles noch akzeptabel, weil auch schön anzuschauen. Doch da ist ja noch was. Die mythischen Wesen, die freundlichen Begleiter Siegfrieds in seinen jungen Jahren, dürfen am Schluss nicht fehlen. Und mitten im taumelnden Jubel um „leuchtende Liebe“ und „lachenden Tod“ sind sie da, freuen sich mit Siegfried und Brünnhilde und rauben dem Zuschauer die Illusion von echter hehrer Liebe.

Carl Friedrich Oberle hat sich mit seinem Bühnenbild genau dieser Regieordnung gefügt. Im ersten Aufzug dominiert dieses merkwürdige Gartenfeld, und einige wenige Requisiten wie Amboss und diverse Schwerter erinnern den Zuschauer daran, dass er sich in der Ring-Tetralogie befindet. Riesentroll Fafner mit seinem Konglomerat sitzt auf einem riesigen roten Sofa, das in die Tiefe absenkbar ist, während die umgestürzte Brücke an der Neidhöhle dem Rheingold entstammt. Da waren die Götter nämlich über diese nach Walhall eingezogen. Grandios dagegen das Bild im dritten Aufzug mit einer formidablen Lichtregie von Michael Röger. Der dunkle Walkürenfelsen von hinten, mit Nebel durchzogen, und nach der Drehung das stilisierte Schlussbild aus der Walküre mit der schlafenden Brünnhilde. Und hier wird das Geschehen wieder zum Märchen, für träumende Erwachsene. Nicola Reichert unterstützt das mit ihren Kostümen, die ihr dann am besten gelingen, wenn es um die Fantasie geht, insbesondere bei Fafner, den ganzen mythischen Wesen und bei Brünnhilde. Siegfried in seiner hochwassertauglichen Latzhose mit einem großen S auf dem Träger: Kein großer Wurf. Mimes Arbeitskleidung entstammt irgendeiner Fabrik, passt aber zu seinem kleingeistigen Habitus. Alberich mit Trenchcoat und Brille sieht mehr aus wie ein Finanzbeamter und der Wanderer mehr wie ein Fischer auf dem Trockenen.

Doch große Oper gelingt erst wirklich durch die Musik und den Gesang. Und dafür sorgen an diesem Abend die erstklassigen Sänger. Allen voran Christian Franz, der die Partie des Siegfried in diversen Inszenierungen auf der ganzen Welt verkörpert hat. Er überzeugt durch seinen strahlkräftigen Tenor, doch lässt ihm Gilmore zu wenig spielerische Gestaltungsmöglichkeit. Sein Schmiede-Lied vermag nicht wirklich zu zünden, wie auch ohne Schmiedeszene. Zu großen Taten und gesanglicher Hochform schwingt er sich dann aber im dritten Aufzug auf. Zunächst das gesangliche Kräftemessen mit dem Wanderer, um dann mit dem wunderbaren finalen Liebesduett mit Brünnhilde in einem tenoralen Jubelausbruch sein emotionales Chaos zu sortieren. Ihm im dritten Aufzug zur Seite eine Elisabet Strid als Brünnhilde, die durch einen klaren und strahlenden, jugendlich-dramatischen Sopran zu betören weiß. Ihr „Heil dir Sonne, heil dir Licht“ erklingt wie eine Offenbarung. Für die Siegfried-Brünnhilde eine Traumbesetzung, für eine Götterdämmerung-Brünnhilde aber sicher noch früh.

Dan Karlström darf man sicher zurecht als Idealbesetzung des Mime bezeichnen. Sein fokussierter Charaktertenor, seine Körperstatur und sein listiges Spiel geben diesem Sänger alles mit, was man für die Darstellung des kleinen Giftzwerges benötigt. Doch auch hier verhindert Gilmore, dass Mime wirklich gefährlich rüber kommt. Lediglich in der Wissenswette mit Wotan darf Karlström zeigen, was für spielerische Möglichkeiten er hat. John Lundgren als Wanderer begeistert mit seinem kräftigen und hohen Bass-Bariton und überzeugt auch durch sein Charakterspiel, insbesondere in der Erda-Szene zu Beginn des dritten Aufzuges. Wunderbares Pendant dazu ist Nicole Piccolomini in der Partie der Erda, die diese Figur wie schon im Rheingold ausdrucksstark und mit warmem Mezzosopran gestaltet.

Jochen Schmeckenbecher hinterlässt als Alberich mit seinem kraftvollen, aber wohltönenden Bariton eine interessante Visitenkarte, und Rúni Brattaberg verleiht dem Riesentroll Fafner einen markanten und voluminösen schwarzen Bass. Abstriche muss man leider bei Eun Yee You machen, die dem Waldvogel ihre Stimme leiht. Diese ist mittlerweile für den leichten Koloratursopran zu schwer, zu dramatisch geworden. Sie singt Woglinde im Rheingold, dann kann sie einfach den Waldvogel nicht mehr singen. Da tut man ihr und dem Publikum keinen Gefallen.

GMD Ulf Schirmer, der am 1. Juni dieses Jahres sein 35-jähriges Dienstjubiläum feiern kann, führt das Leipziger Gewandhausorchester mit facettenreichem Spiel durch die schwierige Partitur. Präzise werden die vielen Leitmotive herausgearbeitet, und die Bläser, die an den vorausgegangenen Abenden immer wieder durch diverse Verspieler auffielen, akzentuieren sauber und klar. Besonders im schon fast kammermusikartigen Waldweben erzeugt Schirmer ein musikalisches Siegfried-Idyll. Er begleitet die Sänger sicher durch die Partie, die gefährlichen Forte-Stellen der Partitur hat er souverän im Griff. Das Tempo ist moderat, mit schnellen Anzügen und expressiven Ausbrüchen, aber insgesamt sehr sängerfreundlich.

Am Schluss gibt es großen Jubel und Bravo-Rufe für alle Sänger, aber auch für Ulf Schirmer und das Gewandhausorchester, nachdem sie an den Abenden zuvor doch einige Buh-Rufe haben einstecken müssen. Das Publikum hat das emotionale Chaos gut weggesteckt. Doch wie wird die Geschichte weitergehen? Eine Götterdämmerung in der Jetzt-Zeit oder in der Zukunft? Werden die mythischen Tanzwesen am Ende überleben und für einen Neuanfang stehen? Diese Fragen wird uns Rosamund Gilmore am 30. April kommenden Jahres beantworten. Dann steht die Premiere der Götterdämmerung auf dem Spielplan, und das Leipziger Ring-Projekt wird sich nach drei Jahren schließen. Und bereits eine Woche später wird an vier aufeinanderfolgenden Abenden der gesamte Ring-Zyklus zu sehen sein, das erste Mal nach 40 Jahren. Es bleibt spannend.

Andreas H. Hölscher

 







Fotos: Tom Schulze