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Fakten zur Aufführung 

BEI LEBENDIGEM LEIB
(Martin Kindervater/Martin Müller-Reisinger)
15. November 2013
(Uraufführung)

Theater Oberhausen


Points of Honor                      

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Herrlich morbide

1955. Zeit des Wiederaufbaus und Wirtschaftswunders. Deutschland steigt wie Phoenix aus der Asche. Oberhausen ist nicht ein in zwei Einkaufszentren getrennter Stadtteil der Metropolregion Ruhrgebiet, sondern wirtschaftlich prosperierende Stadt der Schwerindustrie. Eine Arbeiterstadt, in der es jeder, der fleißig ist, zum eigenen kleinen Wohlstand bringen kann. Die Zukunft sieht rosig aus, die Hoffnungen sind groß. In der Innenstadt wird der Industrieplatz mit prophetischer Lust in Friedensplatz umbenannt. Und dort startet auch eines der größten Bauvorhaben der Nachkriegszeit, das Europa-Haus. Architekt Schwippert schwebt ein Komplex vor, in dem die Menschen gerne leben und auch bereit sind, dafür hohe Mieten zu zahlen. Schöne Geschäfte soll es dort geben, ein Kino gar, mit fast 1.200 Sitzplätzen. Die Entbehrungen des Krieges liegen gerade mal zehn Jahre zurück, nie wieder wollen wir das erleben.

2013. November. Es ist kalt geworden in Deutschland. Oberhausen kämpft gegen die Entvölkerung, aber es fehlt das Geld, die Infrastruktur aus den 1960-er Jahren zu modernisieren. Statt Maßnahmen müssen Slogans reichen. Aus der Innenstadt ist die „Echte Mitte Oberhausen“ geworden. So wie damals die schwarzen Rußwolken der Montanindustrie, drückt heute die Trostlosigkeit in die Stadt. Bis 1985, fast drei Jahrzehnte, hat das Europa-Kino, einst eines von 22 Lichtspielhäusern im Stadtgebiet, durchgehalten. Dann war die Zeit der alten Kinos endgültig vorbei. Irgendwann zog die Bar Transatlantik in die ehemaligen Foyers ein. Und aus dem Kinosaal soll so was wie eine Spielstätte werden. Hierhin bittet das Theater Oberhausen zur Uraufführung des Musiktheaterstücks Bei lebendigem Leib.

Es ist schon ein wenig gruselig. Das ehemalige Lichtspieltheater besteht aus einem Parkett, aus dem die ebenerdig angeordneten Sitzplätze längst entfernt worden sind. So ist eine überdimensionale Spielfläche entstanden. Asymmetrische Ränge sind noch mit der Plüschauslegeware der 1980-er Jahre ausgeschlagen, dazwischen wurde irgendwann Laminat in den Gängen verlegt. Bambusrohrstühle ersetzen die einstige „hochgepolsterte“ Bestuhlung, dazwischen jeweils kleine runde, rotlackierte Tische. Einzelne Podeste und die Seitenränge bleiben abgesperrt. Wo einst die Leinwand war, fällt jetzt der Blick auf den Aufgang zu den Vorführräumen. Schwarzgestrichene Wände, metallische Gerüste und Treppenabgänge ins Nichts verstärken den düsteren Eindruck. Ein Ort, an dem sich Vergangenheit und Vergänglichkeit treffen.

Das richtige Ambiente, um einen „André-Heller-Abend“ zu veranstalten, der allzu rasch in einen Psychothriller ausartet. Regisseur Martin Kindervater und Schauspieler Martin Müller-Reisinger haben ein Stück entwickelt, das von der Annahme ausgeht, der Halbbruder Andrés, mit bürgerlichem Namen Adrian Hofmacher, wolle die Karriere des Gesangspoeten fortsetzen. „Aber ein Exklusivkonzert für den größten Heller-Fan gerät zum Fanal“, umfasst Kindervater den Abend in einem einzigen Satz. Dazu setzt er nicht etwa die üblichen abstrahierenden Projektionen ein, sondern lässt die Hauptdarstellerin filmen und verstärkt so gekonnt die Intensität entscheidender Szenen. Sieht die Bühne von Anne Manss schon zu Beginn gewollt schäbig aus, wird dem Besucher relativ schnell klar, dass es hier noch ganz weit bergab gehen kann. Auf Sperrholzflächen ist rechts hinten eine zerfledderte Leinwand angelehnt. Davor ein Flügel, vor dem ein Blumengebinde aus weißen Rosen zu sehen ist. Mittig angeordnet ein Barhocker mit Notenständer und Mikrofonstativ. Links davon ein Tisch mit Stuhl, davor ein Krug mit weißen Rosen. Dahinter etwas, das ein Inspizientenarbeitsplatz sein könnte. Davor wiederum ein Pappkarton, in dem eine rückwärts laufende Uhr untergebracht ist. Die Geschwindigkeit der Uhr richtet sich hier nicht nach dem Lauf der Zeit, sondern der Notwendigkeit der Aufführung. Das ist eher demotivierend, wenn die Digitalanzeige sich nur schleichend von 01:44:59 zu 00:58:32 bewegt, gewinnt aber an Komik, wenn die letzten Minuten sekundenschnell verstreichen.

Ansonsten bleiben einem die Lacher eher im Halse stecken. Elisabeth Gers steckt die Frau, die zunächst den Eindruck einer Bühnenmitarbeiterin erweckt, um sich später als der größte Fan Hellers zu entpuppen, in eine merkwürdige Bekleidung aus Pullover, Rock, Strumpfhose und klackernden Schuhen. Ein weißer Haarreif unterstreicht den Eindruck der Unbedarftheit. Adrian Hofmacher alias René Heller erscheint in strahlend weißem Bühnenfrack mit Zylinder. Einen solchen Frack wird Yvonne später ebenfalls tragen. Der Pianist tritt langhaarig mit einer Fellmaske, die das gesamte Gesicht verdeckt, im Barockkostüm auf. Warum, bleibt ebenso im Dunkel wie manche der Geschehnisse an diesem Abend. Spielt aber keine Rolle, die Wirkung zählt. Und die trifft jeden einzelnen im Publikum unter die Haut.

Der abgehalfterte Star in der Provinz wird von Martin Müller-Reisinger mit Bravour gespielt und gesungen. Die Vielfalt seiner Nuancen ist nicht an einem Abend zu erfassen. Der Nachgesang der Hellerschen Lieder, erst mit gewollter Überheblichkeit, im Gesang immer knapp vor dem Fehler, später in die Verzweiflung entrückt, unterstreicht das expressive Spiel, mit dem er sich mehr und mehr von seiner Verehrerin abzugrenzen versucht. Anja Schweitzer mutet dem Publikum stimmlich einiges zu, während sie den weiblichen Fan auf Abwegen mimt. Obwohl gewollt, ist ihr österreichischer Dialekt einfach verbesserungswürdig. Schauspielerisch gleicht sie mehr als alles aus. Auch dank der sicheren Bank von Kai Weiner. Der Pianist begeistert mit Zuverlässigkeit und Einfühlsamkeit. Zusammen mit Otto Beatus hat er die Musik arrangiert. Der hat mit dieser Uraufführung übrigens seine letzte Arbeit als festangestellter Musikalischer Leiter am Theater Oberhausen absolviert. Mit Bravour.

Das findet auch das Publikum, das alle Beteiligten abschließend ausgiebig feiert. Auf dem Weg zum Auto durch die erkaltete Innenstadt Oberhausens fröstelt es noch ein wenig. So muss ein erfolgreicher Abend aussehen.

Michael S. Zerban

Fotos: Béatrice Krol