Fundus   Kommentar    Backstage     Medien     Medientipps     Kontakt     Impressum    Wir über uns  
   Dossier    Kleinanzeigen     Links     Facebook     Partner von DuMont Reiseverlag  
     

Fakten zur Aufführung 

THE BLACK RIDER - THE CASTING OF THE MAGIC BULLETS
(Tom Waits, William S. Burroughs,
Robert Wilson)
9. November 2012
(Premiere am 13. Oktober 2012)

Theater Kiel


Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

Bühne

Publikum

Chat-Faktor


Rezensionen-Archiv

Aufführungen nach Name
Aufführungen nach Ort


 
 

zurück       Leserbrief

Stelzfuß' teuflische Fantasien

Wer an Carl Maria von Webers Oper Der Freischütz denkt, assoziiert unweigerlich dunkle Waldromantik mit Jägerchor, Jungfernkranz und die große Arie des Jägerburschen Max Durch die Wälder, durch die Auen. Inhaltliche Vorlage für diese Oper ist Band 1 des Gespensterbuches des Leipziger Dichters Johann August Apel, der 1810 die auf eine alte Volkssage beruhende Geschichte des Freischütz publizierte. In Webers Oper gibt es ein Happy-End für Max. Die siebte Kugel trifft nicht Agathe, sondern den Bösewicht Kaspar, der Segen des Eremiten hat Agathe geschützt. Soweit die romantische Interpretation der Sage. 170 Jahre nach der Uraufführung setzt sich der Avantgarde-Theatermacher Robert Wilson mit diesem Stoff auseinander. Gemeinsam mit dem amerikanischen Schriftsteller und Kultautor William S. Burroughs sowie dem Alternativ-Rockmusiker Tom Waits wird eine moderne und schonungslose Adaption des Freischütz für das Hamburger Thalia Theater konzipiert. 1990 hat The Black Rider - Der Schwarze Reiter - seine Uraufführung. Es ist kein Musical im klassischen Sinne, eher eine Rockoper mit zum Teil experimenteller Musik. Es finden sich Klanglandschaften aus Einspielungen, Elektronik- und Instrumentalklängen, die Bilder fürs Ohr erzeugen. Neben rauchigen und rockigen Nummern wie Come on along with the Black Rider gibt es ruhige Momente und Balladen wie I‘ ll shoot the moon. Zusammen mit den schwergewichtigen Texten von Burroughs, dessen Drogenabhängigkeit und Homosexualität einen kompromisslosen Einfluss in sein literarisches Schaffen genommen haben, und der Bildersprache von Robert Wilson ist The Black Rider ein avantgardistisches modernes Kunstwerk, das immer wieder auch auf deutschen Bühnen zu finden ist.

Die Geschichte ist bekannt und schnell erzählt. Oberförster Bertram duldet nur einen Jäger als Bräutigam für seine Tochter Käthchen. Doch Käthchen liebt den Dichter Wilhelm und nicht den Jägersburschen Robert, den der Förster für sie ausgewählt hat. Wilhelm ist verzweifelt, denn weder fallen ihm die richtigen Worte ein, noch ist er treffsicher mit der Flinte. Da bietet ihm ein hinkender Unbekannter Hilfe an. Mit magischen Freikugeln, die immer ins Ziel treffen, kann der Stelzfuß den unglücklichen Wilhelm aus seiner Misere befreien. Wilhelms neues Jagdglück überzeugt Bertram und verdrängt den Rivalen Robert. Trotz dunkler Vorahnungen von Käthchen wird die Hochzeit vorbereitet. Der Probeschuss wird mit der letzten von sieben Kugeln abgefeuert. Doch sie gehört Stelzfuß, und Käthchen bricht tödlich getroffen zusammen.

Malte Kreutzfeldt hat The Black Rider für die Oper Kiel in Szene gesetzt. Ihm gelingen ein beängstigender Alptraum und ein tiefer Blick in die Abgründe menschlicher Konflikte. Dabei beginnt alles ganz schlicht und harmlos im Försterhaus von Bertram. Während der Erzähler Burroughs sich höchstpersönlich aus einer überdimensionierten Kuckucksuhr hoch über der Bühne Gehör verschaffen will, gibt es im Försterhaus zweimal hintereinander einen Kurzschluss, der alles durcheinander wirbelt. Und es erscheint Stelzfuß, hinkend, schwarz gewandet und gestützt auf einen Revolverstock. Gar nicht unsympathisch, seiner Macht und seiner Wirkung bewusst, übernimmt er sofort das Kommando und führt die Protagonisten auf einen Teufelstrip der Extreme, aus dem es kein Entrinnen gibt. Kreutzfeldt verbindet Absurdität mit Comedy, und Trash ersetzt Romantik, wenn Käthchen als weiße Taube durch die Luft fliegt, Stelzfuß kopfüber alles steuert und Wilhelm zum brutalen Killer mutiert, während der ausgebootete Robert sich mit dutzenden kleinen Flaschen Jägermeister besäuft. Schonungslos offenbart Kreutzfeldt das Dilemma von Käthchen und Wilhelm, die dem teuflischen Spiel des Black Rider wie Marionetten ausgeliefert sind. Mit dem avantgardistischen Bühnenbild von Niklaus Portz und den unaufdringlichen Kostümen von Katharina Beth wirkt die Inszenierung wie ein Drogentrip in grellem Schein und nebligem Dunst. Das einzig Reale ist ein Habicht, der zweimal von der Bühne aus durch den Zuschauerraum fliegt und an die romantische Vorlage fast wehmütig erinnert. Brutal der Schluss. Die letzte Kugel gehört Stelzfuß, und in überdimensioniertem Zeitlupentempo in typischer Robert-Wilson-Manier wird Käthchen getroffen, langsam breitet sich der Blutfleck aus, und fast zärtlich nimmt Stelzfuß seine Beute zu sich.

Michael Nündel am Pult und am Klavier sowie sein achtköpfiges Musikerensemble The Social Outtimes führen sicher durch die unterschiedlichsten Musikstile. Neben Jazz- und Swingklängen gibt es harten Rock und kammermusikalische Einlagen bis hin zu experimentellen Tonfolgen.

David Allers als Stelzfuß imponiert mit souveränem Spiel. Seine Stimme klingt rockig und rauchig in Come on along with the Black Rider und zärtlich sanft in The last Rose of Summer. Maxine Kazis gibt das Käthchen sanft und verträumt, ihre Interpretation von I‘ ll shoot the moon ist berührend schön. Andreas Christ zeigt mit großem physischem Engagement einen Wilhelm, der den Wandel vom Loser und Weichei zum brutalen Schützen glaubhaft interpretiert. Oliver Jaksch überzeugt als trunkener und psychisch zerrissener Jägersbursche Robert. Matthias Unruh als gefühlskalter Förster Bertram und Katharina Abt als Käthchens Mutter komplettieren das beeindruckende Ensemble auf der Bühne. Und Norbert Wendel als Erzähler Burroughs, im ersten Teil von oben herab kommentierend, wird zum Schluss der Begleiter des Black Rider auf der Bühne. Diese Figur passt dramaturgisch in diese Inszenierung und wird von Wendel imposant interpretiert.

Das altersmäßig gemischte Publikum braucht am Ende ein wenig Zeit, um das Gesehene und Gehörte zu verdauen, für einige war es sicher eine grenzwertige Opernerfahrung. Doch der Jubel für die Darsteller, insbesondere für David Allers und Maxine Kazis sowie Michael Nündel und seinen Musikern ist einhellig. Nach der revueartigen und entstaubten Inszenierung des Weißen Rössl hat die Oper Kiel nun mit The Black Rider erneut ein Werk auf die Bühne gebracht, dass über Genregrenzen hinaus alte und neue Opernbesucher gewinnen kann.

Andreas H. Hölscher

Fotos: Olaf Struck