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Fakten zur Aufführung 

JOHANNESPASSION
(Johann Sebastian Bach)
19. Februar 2013
(Premiere am 21. Februar 2013)

Berliner Dom, Berlin

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Menschenschicksal auf dunkler Erde vorm Altar

Die Johannespassion von Johann Sebastian Bach gehört zu den großen Konzertwerken, die ursprünglich nicht für szenische oder opernhafte Interpretationen vorgesehen waren. Da jedoch der Anteil an affektiven Impulsen, der stete Wechsel von dramatischem Duktus und Kontemplativem, Meditativem zu Gunsten des realen Geschehens, des Zupackenden, des Chaotischen das Werk prägt, ist die Herausforderung groß, dem Konzertanten auch eine szenische Form zu geben.

Der Berliner Dom mit seinem demonstrativen Glanz der Gründerjahre, seiner gleisnerischen Gigantomanie und seiner neobarocken Ornamentik ist der denkbar größte Kontrast zu der qualvollen Leidensgeschichte des Jesus von Nazareth an der Schwelle zur Neuzeit. Andererseits: Ergibt sich nicht vielleicht gerade eine theatrale Spannung aus dem Gegensatz von monumentaler barocker Prachtentfaltung des architektonischen Rahmens und der davor stattfindenden so gänzlich schmucklosen Geschichte von Leid, Verrat, Ohnmacht und vom unerbittlichen Abschlachten eines großen Menschen um der Staatsräson willen?

Offensichtlich bezieht der Initiator, Produzent, Dirigent und Regisseur Christoph Hagel gerade aus diesem optisch miteinander Unvereinbaren die enorme geistige wie sinnliche Spannung seiner Inszenierung. Die fünf Tonnen dunkler Erde, die der Regisseur hat anfahren und vor dem goldglänzenden Altar des Berliner Doms auf einem Schwingboden ausschütten lassen, bilden als Tanzfläche die Bühne seines szenischen Geschehens. Schließlich fand die legendäre Kreuzigung Jesu in freier Natur statt, auf einem Hügel, inmitten von Erde, Sand und Dreck. So hat Hagel, der seit Jahren bekannte Werke der musikalischen Klassik an dafür nicht geschaffenen Orten aufführt, im Berliner Dom zuletzt Haydns Schöpfung, schon mit der zu Grunde liegenden Idee dieses schreienden Kontrastes gewonnen. Das hohe Risiko, das er mit der mehr als hundert Mitwirkende beschäftigenden und – so ist anzunehmen - in privater Finanzierung entstandenen Produktion einging, hat sich in künstlerischer Hinsicht Gott sei Dank gelohnt.

Gleich zu Beginn des Abends, der Aufführung vorangestellt, ist ein kurzer Dokumentarfilm zu sehen, den Klaus Steinberg in den USA als Interview drehte. Darin berichtet der ehemalige Direktor des größten Zuchthauses seines Landes von einem ihn verändernden, schockartigen Grunderlebnis: Ein zum Tode verurteilter Jugendlicher legte ihm als dem zuständigen „Rechtssprecher“, wenige Minuten vor seiner Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl, die Hand auf und sagte: „Ich liebe dich.“ Diese unbegreifliche Geste des Verzeihens und der Zuwendung eines „Gekreuzigten“ hat dem „Pilatus“in der amerikanischen Wirklichkeit des frühen 21.Jahrhunderts moralisch gleichsam das Genick gebrochen. Er hat daraufhin seine Tätigkeit als „Oberster Richter“ aufgegeben, beschämt durch den Deliquenten.

Christoph Hagel macht in seiner Inszenierung die prinzipielle Dualität von Handlung und Reflexion – mal als optische Dopplung, ein anderes Mal als akzentuierten Gegensatz - zum immer wieder auftauchenden, bestimmenden Element seiner Arbeit. Vorzügliche Hilfe leistet ihm der Choreograf Martin Buczkó. Dabei geht er zugleich inhaltlich nachvollziehbar und sehr nuanciert mit dem choreografischen Material um, von einfachen und schlichten Gesten bis zu tanztechnisch anspruchsvollen Passagen, zu raschen Umklammerungen, Hebungen, Interaktionen. Es entstehen dabei Momente nachhaltiger Wirkung. Unvergesslich beispielsweise der Augenblick, als Jesus nach der Abnahme vom Kreuz in einer bizarren und erstarrten Haltung am Boden liegt, gleichzeitig in der Todesstarre verkrampft und dennoch wie überirdisch schwebend.

Vor dem Hintergrund eines gut vorbereiteten und in verlässlicher Güte und Engagiertheit musizierenden Teams, den Berliner Symphonikern und dem Berliner Symphoniechor, unter szenischer, meist sogar tänzerischer Mitwirkung von fünf Gesangssolisten und Studenten der Staatlichen Ballettschule Berlin ist ein Abend von großartiger innerer Spannung zu erleben, der sich in einer bewundernswerten Mischung aus ganz der gemeinsamen Sache dienenden Bescheidenheit und natürlichem Selbstbewusstsein mitteilt.

Keine Stars, kein Protagonistenzirkus. Johannes Gaubitz ist der Evangelist, der singende Berichterstatter, mit schönem Stimmsitz, partiell von betörendem Schmelz, kontrastierend dann wieder mit zupackender Attacke. Die ambivalente Figur des römischen Statthalters Pilatus, der zunehmend fasziniert von Jesus ist und ihn dennoch hinrichten lassen muss, singt Ulf-Dirk Mädler, dem die Härte, Schroffheit, Unnachgiebigkeit seiner Partie in Erscheinung und Gestus eher entgegen kommt als die zunehmende Verunsicherung und widerwillige Anteilnahme. Darlene Ann Dobisch, in ihrer nachhaltigen Wirkung aus früheren Opernprojekten Hagels bestens in Erinnerung, ist hier eine Mutter Maria von anrührender darstellerischer Schlichtheit und Aufrichtigkeit, dabei mit leuchtendem Sopranglanz. Der Countertenor Christophe Villa ist für den Lieblingsjünger Johannes sicher eine Idealbesetzung: Von bester stimmlicher Disposition und bezwingender darstellerischer Lauterkeit. Schließlich der Bariton Christian Oldenburg in der Rolle des Jesus: Ein optisch prädestinierter Sängerdarsteller, der mit sehnig-muskulöser Schlankheit, gleichermaßen sängerischem wie auch tänzerischem Können und unaufwendigem wie plastisch mitteilsamem Spiel eine ideale Symbiose im Sinne dieser die vielseitigen theatralen Formen verschmelzenden Inszenierung darstellt.

Das Publikum folgte der bezwingenden Aufführung mit großer Aufmerksamkeit und atemloser Anteilnahme, die mit zögerlichem, nur behutsam einsetzenden und sich dann steigerndem langen Beifall endete. Ein in dieser Rollenbesetzung großartiger, nachhaltig wirkender Abend!

Joachim Stargard

 





Fotos: Dirk Mathesius