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Fakten zur Aufführung 

IL RITORNO D’ULISSE IN PATRIA
(Claudio Monteverdi)
10. Juli 2010
(Premiere: 9. Mai 1998, Théâtre Royal de la Monnaie/KunstenFestivaldesArts, Brüssel)

Mülheim an der Ruhr/Theater der Welt


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Über die Fragilität des Lebens

Das 2010 unter dem Leitwort des 'Perspektivwechsels' angetretene Festival Theater der Welt zeigte neben Grauns Montezuma (opernnetz-Besprechung hier) als zweite Opernproduktion Il ritorno d'Ulisse in Patria von Claudio Monteverdi. Die andere Perspektive: Die Akteure der Oper sind lebensgroße Puppen.

Regie, Animation und Bühne dieser ambitionierten Produktion verantwortet der südafrikanische Künstler William Kentridge (*Johannesburg 1955). Kentridge, gerade für sein Lebenswerk mit dem renommierten und mit 450.000 Euro extrem gut ausgestatteten Kyoto-Preis ausgezeichnet, hat häufig transdisziplinär gearbeitet, was neben diversen Schauspielproduktionen bereits zu drei Arbeiten für die Oper geführt hat. Neben diesem Ulisse (1998), dem Opernerstling, produzierte die Brüsseler Oper 2005 Mozarts Zauberflöte und die New Yorker Metropolitan Opera im März 2010 Die Nase von Schostakowitsch. Kentridges Ausgangspunkt für die bildnerische Gestaltung sind stark akzentuierte Kohlezeichnungen, die laut Kentridge dazu drängen, das Medium zu wechseln und sich in Film zu verwandeln. Fotografiert werden sie Grundlage für Animationsfilme, stark erinnernd an die Frühzeit des Mediums. Es ist kein aus vielen individuellen Einzelzeichnungen in Folge zusammengesetzter Film, sondern es ist pro Filmsequenz eine fortlaufend variierte Zeichnung, die in unterschiedlichen Stadien fotografiert wird. Zeichnen, Fotografieren, Weiterzeichnen, Fotografieren: so ist der Ablauf des langwierigen Verfahrens, das zum Bühnenfilm führt. Nach jedem Foto wird erweitert, wegradiert, das Motiv weiter- oder wegentwickelt, dann wieder fotografiert, vom Filmischen her gesehen also very basic, von der zeichnerischen Praxis ein ungeheures Faszinosum einer ständig sich wandelnden Bildwelt. Kentridges Bühnenfilm zu Il ritorno d'Ulisse in Patria enthält neben diesen zeichnerischen Elementen passagenweise Schwarzweißfilm mit Aufnahmen aus Johannesburg und Umgebung sowie Innenansichten eines Johannesburger Krankenhauses – eine Novität seinerzeit in dessen Oeuvre. Ergänzt werden medizinische Aufnahmen aus dem Innern des menschlichen Körpers. Die gefilmten Zeichnungen vermitteln ein barockes Bild von Ithaka, Tempelruinen, arkadische Landschaften, nehmen aber auch die medizinische Thematik auf. Ortsebenen und Themen wechseln, verschwimmen assoziativ ineinander, stehen aber immer in Relation zum Text des Librettos. Der reine Produktionsprozess für den Film und für das Design und die Herstellung der Puppen (Kentridge in Zusammenarbeit mit Adrian Kohler von der Handspring Puppet Company) nahm zwanzig Monate in Anspruch. Kentridge passte den Film beim editing sequenzgenau an das Tempo der Ulisse-Version des musizierenden belgischen Ricercar Consort unter der Leitung von Philippe Pierlot an, das jetzt konsequenterweise unerbittlich darauf festgelegt ist.

Die Szene auf der Bühne: Ein Anatomiesaal im Stil des 17. Jahrhunderts, ein atriumförmiges Halbrund mit einer Spielfläche in der Mitte. Dort liegt auf einem Bett eine Puppe: Ulisse. Um sie herum das siebenköpfige Ricercar Consort, im Hintergrund erhöht die Leinwand für den Film. Davor ein Gang, wo die Puppen agieren können, ohne dass man sieht, wie sie von Puppenspielern angetrieben werden, was zu imposanten Bildern vor der bewegten Leinwand führt, etwa wenn Ulisse durch eine Allee läuft und ein Eindruck von wirklich bewegter Szene entsteht. Ulisse - so ist die Interpretation angelegt - erlebt die letzten Momente seines Lebens. Er liegt in einem Bett, sichtbar atmend, nur mühsam kann er sich aufrichten. Die Szene entsteht in seinem Kopf, in dem alles rückblickhaft verwirbelt. Die heldische Geschichte von Ulisse und Penelope verbindet sich mit Krankenhausszenen, Untersuchungen, Erinnerungen und Fantasien. Unwirtliche Großstadtbilder im Film zeigen die Bedrohung des Helden heute, sein Standhalten im Dasein und die Verletzlichkeit des Einzelnen. Das verbindet sich mit der Librettohandlung des Ulisse, die von einem Ulisse-Double und dem weiteren Puppenensemble auf der Bühne gegeben wird, als Fantasie und Wahn einer irrlichternden Erinnerung. Die Inszenierung bildet so den Opernstoff als Rückblick ab. Ulisse erscheint dupliziert: als aktiver Held, der handelt und mit Erinnerungsbildern sterbend daniederliegend.

Neben den Krankenhausimpressionen mit endlosen, kalten Fluren - eine so anonyme wie sterile Umgebung - bringt der Bühnenfilm in seiner medizinischen Ausrichtung auch gezeichnete und gefilmte Reisen in das Innere des menschlichen Körpers, zeigt Venen und Adern, gibt Blicke auf das pulsierende Herz frei. Die medizinischen Metaphern sind zentrales Element der Bildsprache der Inszenierung. In gewisser Hinsicht ist so nicht Ulisse die Hauptperson der Oper, sondern er ist Allegorie für den menschlichen Körper in seiner strukturellen Empfindlich- und Verletzlichkeit, seinem Prozess des Alterns und Vergehens, angreifbar und gefährdet von inneren wie äußeren Risiken. Zugleich ist es eine Reise in das innere unbekannte Terrain des menschlichen Leibes, in eine unter der Hautoberfläche verborgene rätselhafte Landschaft, der man in der Regel nicht so begegnet, wie sie die medizinischen Aufnahmen wiedergeben.

Obwohl die Produktion aus dem Jahr 1998 stammt und seitdem weltweit aufgeführt wurde, hat sie keinerlei Patina oder Routine im negativen Sinne angesetzt. Sie ist nach zwölf Jahren nicht mehr vollständig identisch besetzt wie bei der Premiere. Neben dem Orchester, dem in Lüttich beheimateten Ricercar Consort unter der Leitung von Philippe Pierlot, entspricht einzig die Rolle der Penelope mit Guillemette Laurens noch der Premiere.

Die Opernfiguren auf der Bühne konstituieren sich in vollständiger partnerschaftlicher Einheit aus drei Teilen: Eine etwas unterlebensgroßen Puppe, detailreich geschnitzte und gekleidete Charakterfiguren. Dazu der jeweilige Puppenspieler in dezentem Schwarz und ihr Sänger, auftretend in Konzertkleidung. Dieses Ensemble produktiv und spielerisch als handelnde Einheit an das Publikum zu vermitteln, ist das Schwere und Riskante der Produktion. Sänger und Puppenspieler handeln hinter und im Dienste der Puppe. Die Sänger singen zu der Puppe hin und adressieren nicht ans Publikum, nehmen Anteil an der Bewegung der Puppen, indem sie zwar nicht die ganze Figur bewegen, aber zusammen mit dem Puppenspieler Teile des Körpers. Die Puppen bekommen so einen außerordentlich lebendigen Charakter und in den besten Momenten vergisst man ihre dreigliedrige Konstruktion. Sie scheinen als lebendiger Organismus selbst zu atmen und zu singen, was unter anderem durch die vielen Mikrobewegungen erzeugt wird, was die jahrzehntelange Erfahrung der Handspring Puppet Company (seit 1981) unter Beweis stellt. Die Sängerbesetzung der Mülheimer stagione, allesamt unter Zurücknahme des großen Auftritts exzellent eingebunden in das Puppenspiel, befand sich auf außerordentlichem Niveau. Alle Beteiligten sind seit vielen Jahren feste Bestandteile der Alte-Musik-Szene. Julian Podger sang einen starken, aber auch abgeklärten Ulisse, mit einer wunderbaren Balance zwischen heldisch-gelungener Lebenserfahrung und Verletzlichkeit; er verkörperte ebenso L'humana Fragilità. Die Mezzosopranistin Guillemette Laurens ist eine überaus erfahrene Penelope. In der Rolle von Amor and Minerva: Adriana Fernández. Stephan MacLeod als Tempo, Nettuno und Antinoo, Anna Zander als Fortuna, Melanto und Anfinomo, Valerio Contaldo als Giove, Eurimaco und Eumete, und Lluís Vilamajo als Pisandro und Telemaco and Anfinomo bildeten das exzellente Ensemble in Partnerschaft mit den fünf Puppenspielern der Handspring Puppet Company: Basil Jones, Adrian Kohler, Jason Potgieter, Enrico Wey und Busi Zokufa. Orchesterleiter Philippe Pierlot, als Gleicher unter Gleichen als Gambist im Septett, richtete auch die auf etwa 100 Minuten um Nebenhandlungen verschlankte Fassung ein. Das Ricercar Consort auf historischen Instrumenten erzeugte einen sehr klaren und intimen Klang für eine bewegende Aufführung von großer Konzentration und Ruhe. Das überaus dankbare Publikum war am Ende in großer Fest(ival)stimmung und nahm auch die anschließende Gelegenheit zum direkten Austausch mit Teilen des Ensembles in einer engagierten Diskussion gerne wahr.

Dirk Ufermann