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Fakten zur Aufführung 

MONTEZUMA
(Carl Heinrich Graun)
3. Juli 2010
(Premiere: 30. Juni 2010)

Theater der Welt/Mülheim a. d. Ruhr


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Perspektivwechsel

Perspektivwechsel ist das Leitwort der 12. Ausgabe des Festivals 'Theater der Welt', 2010 unter der Leitung der Belgierin Frie Leysen. Die Eröffnungspremiere in der Mülheimer Stadthalle galt der selten zu hörenden, spätbarocken Oper Montezuma (UA Berliner Staatsoper 1755) des preußischen Hofkomponisten und Kapellmeisters Carl Heinrich Graun, das Libretto stammt von Friedrich dem Großen. Der Perspektivwechsel: Regisseur, Dirigent und viele der Aufführenden stammen aus der Neuen Welt. Wie erfahren und beurteilen Nachfahren der Kolonialisierten den Blick des preußischen Monarchen?
Montezuma und die Eroberung Mexikos durch Hernán Cortés 1519 sind von Vivaldi über Graun zu Rihm und Lang ein wirkungsvolles Sujet über den Zusammenprall zweier Kulturen. Friedrich II. nimmt mehr als 200 Jahre nach den historischen Ereignissen die historischen Gegebenheiten als loses Gerüst, komprimiert sie auf einen Tag, um Montezuma in der aufklärerisch-literarischen Tradition des 'edlen Wilden' als kritischen Kontrast zu machtbewusstem militärischem Handeln und der expansiven Haltung der (katholischen) Kirche darzustellen: „Cortés ist der Tyrann, und folglich können wir, durch die Musik selbst, ein paar Angriffe gegen die christliche Kirche führen. (...) Ich hoffe, es gibt bald ein Land, in dem die Oper vermag moralische Instanz zu sein und Aberglauben zu zerstören.“ schreibt Friedrich II. 1753. Doch die tendenziell passive, vielleicht allzu naiv friedfertige Haltung des Aztekenherrschers gegenüber den so aggressiv und wie im Fall von Cortés auch eloquent trickreich auftretenden Spaniern führt die Mexica realpolitisch ins Desaster und bildet auch für Friedrich II. nur eine kurzfristige Perspektive und kein langfristiges Leitbild. Graun komponiert die 'Heldenoper in drei Akten' im italienischen Stil, auch die Opernsprache ist der damaligen Mode entsprechend Italienisch. Der Hofschreiber Tagliazucchi übersetzte das französische Libretto Friedrichs II. dazu ins Italienische.
'Theater der Welt' zeigt eine weit gespannt international koproduzierte Inszenierung mit einem multinationalen Ensemble unter der Leitung des mexikanischen Regisseurs Claudio Valdés Kuri und des argentinischen Dirigenten Gabriel Garrido. Die Erarbeitung der Produktion erfolgte seit Anfang 2010 in drei intensiven Probephasen. Begonnen wurde in Genf, dem Sitz des Orchesters Concerto Enlyma , es folgte Mexiko, der Ort der Handlung. Die Schlussproben fanden in der Kulturfabrik Kampnagel in Hamburg statt, einem der koproduzierenden Aufführungsorte.
Das Leitungsteam ist von Stoff und Oper deutlich affiziert: Gabriel Garrido fasziniert zuerst die Figur des letzten Kaisers der Azteken in seiner emblematischen Größe, auch gilt Montezuma als Symbol des Widerstandes und als Archetyp einer postkolonialen Gesellschaft auf Identitätssuche. Carl Heinrich Grauns und Friedrich II. Opernprojekt ist für ihn ein frühes Manifest eines gelingenden Multikulturalismus: „Ein deutscher Komponist, der Meister der italienischen Oper ist, ein König als Librettist, der auf Französische schreibt und ins Italienische übersetzt wird. Und das Thema ist die spanische Eroberung, wobei der Held Azteke ist. (...) Die Oper erzählt von den Unterschieden zwischen Kulturen und Religionen und zieht gleichzeitig eine Parallele zwischen dem Helden Montezuma und dem Rationalisten Friedrich dem Großen, deren gegensätzliche Welten einander gegenübergestellt werden.“ Die Auffassung des 'Barock' ist in Lateinamerika ohnehin anders und weiter gefächert als in Europa. Bedeutende lateinamerikanische Schriftsteller wie Lezama Lima, Alejo Carpentier (auch ein wichtiger Musikwissenschaftler) oder Carlos Fuentes bezeichneten das Barock als sich durchhaltenden, auch durchaus zeitgenössischen Stil. Das hat unter anderem damit zu tun, dass sich in Lateinamerika keine wirkmächtigen Strömungen der Klassik und Romantik entwickelten, die zu einem Abbruch der barocken Tradition führten, wie in Nordeuropa. Das Barock war auch deshalb so einfluss- und erfolgreich, weil es, so Gabriel Garrido, an jedem Ort das jeweils Charakteristische integrieren konnte, also indigene Elemente in die Musik oder aztekische Stile, Figuren und Zeichen in die Barockarchitektur.
Dem Friedrichschen Topos des 'edlen Wilden' setzt der mexikanische Regisseur Claudio Valdés Kuri auch ein Korrektivbild entgegen. So ist gleich anfangs ein Menschenopferritual zu sehen. Denn Grausamkeit war nicht nur eine Verhaltensweise der spanischen Conquistadoren, sondern auch Kennzeichen der inneraztekischen Macht- und Religionsausübung. Die Inszenierung hat bei allem Ernst des Heldenepos doch auch eine ironische und assoziative Grundhaltung, die den Blick vom historischen Kern der Oper wegführt und Streiflichter auf die weitere Entwicklung Mexikos nimmt. Ironische kultur- und globalkapitalististisch-kritische Einsprengsel – „Dank an Pepsi für die Ernährung unserer Jugend“, „Dank an Nestle für die Nutzung unserer Wasservorräte“, „Dank an Bayer für die flächendeckende Pestizidversorgung“ etc. - als Projektion im Bühnenhintergrund und in der Übertitelungsanlage - wenden den Blick von der doppelten historischen Vorlage – von der Zeit der Conquista und der humanistischen Entstehungsgeschichte - zur Jetztzeit. Auch die farbenfrohen indigenen Kostüme sind zum Teil kunstvoll aus Wohlstandsmüll wie Plastiktuben gefertigt (Kostüme: Jimena Fernández), was man erst auf den dritten Blick wahrnimmt. Je weiter die Inszenierung fortschreitet, desto näher kommt sie in der Gegenwart an. Die Fahne Mexikos, Protestplakate, Hinweise auf politische Verfolgung werden ganz selbstverständliche Bestandteile der Szene: Das heutige Mexiko hat eben diese doppelte Genese aus indigener und conquistadorischer Nachkommenschaft. „Zweihundert Jahre nach der Emazipation nahezu jeder Nation in Mittelamerika, nach Unabhängigkeitskriegen und Revolutionen, scheinen sich die Bedingungen nicht im Geringsten geändert zu haben: Ein großer Teil der Bevölkerung, bestehend aus Mestizen und Eingeborenen ist gefangen in Verbitterung und erfüllt von einem Verlustgefühl. Andererseits lebt die herrschende soziale Schicht, die Erben der Kolonialmacht in einer fiktiven Überlegenheit, die sich in Arroganz, Verachtung und Mitleid ausdrückt.“ (Valdés Kuri). Die Inszenierung findet mit leichter Hand immer wieder raffinierte, reflektierte Momente. Im dritten Akt spielt das Orchester plötzlich statt im Graben auf der Bühne, wird so mit dem Dirigenten in die Aktion direkt eingebunden. Das Barockorchester, eine genuin europäische Erfindung, erobert den Bühnen- und Handlungsraum, nachdem Montezuma ohne Kampf besiegt und festgesetzt wurde, wie seinerzeit die Conquistadoren den lateinamerikanischen Kontinent eroberten.
Die Inszenierung spielt in einem sparsamen Einheitsbühnenbild, das im ersten und zweiten Akt von drei variablen Treppenpodesten gegliedert wird, die von den Akteuren selbst arrangiert werden, mal separat, mal als Einheit zusammengeschoben (Bühnenbild: Herman Sorgeloos). Im dritten Akt dominiert eine Säule das Geschehen, Haftort von Montezuma, der am Ende vom Sockel stürzt. Die Inszenierung enthält sich einer These für das immer rätselhaft gebliebene friedfertige Verhalten Montezumas gegenüber den Conquistadoren.
Die ausgedehnte Vorbereitungszeit hat Solisten, Chor und Orchester zu einer ausgesprochen dichten Einheit geformt. Gesungen wurde auf einem ausgezeichneten Niveau ohne Einbrüche, wobei die Ansprüche der Regie an Spielfreudigkeit und körperliche Aktion den Sängern einiges abforderte. Die ungewöhnliche Besetzung einer Oper mit drei männlichen Sopranen gelang ganz ausgezeichnet mit dem Montezuma des Flavio Oliver und Adrián-George Popescu als Cortés sowie Christophe Carré als Narves (mit dressiertem Hund). Über eine phänomenale Bühnenpräsenz verfügt die Sopranistin Lucía Salas (Pilpatoé). Wie man schier endlose Koloraturen bravourös singen und gleichzeitig eine Treppe herab- und heraufrollen kann, zeigt die überwältigende Lourdes Ambriz als Montezumas Verlobte Eupaforice. Rogelio Marín als Tezeuco, Lina López als Vertraute von Eupaforice, Erissena und der Coro de ciertos habitantes bilden das weitere Ensemble.
Damit es nicht so traurig endet, kommt es noch zu einem angehängten lebhaften Finale des mexikanischen Barockkomponisten Manuel de Sumaya (1680-1755) in einer Bearbeitung von Luis Antonio Rojas (*1961). So ist man auch musikalisch in die Jetztzeit gekommen.
Unter der agilen und doch gelassenen Stabführung des Argentiniers Gabriel Garrido, europäisch ausgebildet an der Schola Cantorum Basiliensis, spielte brilliant, spürbar bestens aufgelegt, schlank, mit aufgerauhtem und doch farbenreich Klang das Concerto Enlyma auf historischen Instrumenten. Garrido wählt abgestuft schnelle Tempi und dramatische Zuspitzungen. Das Concerto Enlyma ist das Nachwuchsförderprojekt des von Garrido 1981 in Genf gegründeten Barockorchesters Ensemble Elyma und ist wie dieses der historisch informierten Aufführungspraxis verpflichtet. Breiter und großer Jubel am Schluss.
Die Inszenierung ist vom 14. bis 17. 8. beim Edinburgh International Festival, vom 15. bis 21. 9. am Madrider Teatro Real, vom 29.09. bis 2. 10. in der Kulturfabrik Kampnagel in Hamburg zu erleben, bevor sie schließlich in Mexiko gezeigt wird.

Dirk Ufermann














 
Fotos: © Herman Sorgeloos