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Fakten zur Aufführung 

GISELA
(Hans Werner Henze)
28. September 2010
(Uraufführung: 25. September 2010)

Maschinenhalle Gladbeck-Zweckel

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Gisela!

Alles klingt, als sei es mit leichter Hand komponiert, souverän und locker zugleich, Reminiszenzen an das eigene Lebenswerk blitzen ebenso aus dem neuen Werk hervor, wie Reverenzen an die Musikgeschichte. Die einst im doktrinären Kampf der Musikkulturen gegeneinander ausgespielten Heroen des 20. Jahrhunderts der zweiten Wiener Schule sind so verbunden mit der vertrackten motorischen Rhythmik Strawinskys. Anklänge an Richard Strauss finden sich, der Madrigalstil Monteverdis wird evoziert. Eine wunderbare Pointe ist auch ein klang- und musikdramaturgisch so effektvoll wie exzellent eingebauter Rückgriff auf das Barock des Johann Sebastian Bach im zweiten Teil des Stücks. Das 'Musiktheaterstück', wie Henze Gisela! zusammen mit seinen Librettisten Christian Lehnert und Michael Kerstan nennt, hat insgesamt einen singspielhaften Gestus, benutzt traditionelle Formate wie Ouvertüre und orchestrale Vor- und Zwischenspiele, Rezitative und Arien. Das etwa 1½-stündige Werk verfügt über eine eher narrativ additive Struktur als über den großen durchkalkulierten Bogen, besitzt auch nicht die artifizielle Raffinesse von Henzes letzter Oper Phaedra (siehe hier), die aufgrund der biografischen Krise des Komponisten auch eine ganz andere, existenzielle Genese besitzt. Gisela! ist von Anbeginn an, so wollte es auch der Auftrag, ein anderes, ein leichter geartetes Werk. Konzipiert als eine Arbeit für Jugendliche und mit Jugendlichen ist es jungen Musikern, Solisten und einem Jugendkammerchor gewidmet, die allerdings schon einen hohen Grad an Professionalität besitzen müssen, um vor dem Werk zu bestehen.

Holzschnittartig burlesk hingegen ist die Handlung des Librettos. Schon die titelgebende Gisela ist eine Chiffre für die deutsche Durchschnitts-Mittelklassefrau. Klischeebesetzt auch der Plot: Gisela, Kunstgeschichtsstudentin, reist mit ihrem Freund, einem angehenden Vulkanologen, in einer Reisegruppe nach Neapel. Während ihr Freund Hans Peter die Beziehung mit einem Heiratsantrag krönen und festigen will, ist sich Gisela der Sache noch gar nicht sicher. Diese Gefühlsunsicherheit steigert sich, als sie Gennaro kennenlernt, ihren neapolitanischen Reiseführer und zugleich als Pulcinella Akteur einer Commedia dell’arte-Truppe. Beide nähern sich einander an und Gisela nimmt Gennaro schließlich mit aus dem schönen Italien in die verregnete und neblige Tristezza des postindustriellen Oberhausen. In der letzten Szene auf dem Oberhausener Bahnhof kommt es zu einem Zweikampf zwischen Hans Peter und Gennaro um Gisela, den der Italiener für sich entscheidet. Der Vesuv bricht aus vor Freude und es regnet Asche bis Oberhausen. Ob das deutsch-italienische Verhältnis gut ausgeht, bleibt offen, es gibt kein eindeutiges Happy End. Die simple Story um das deutsche Gegensatzthema von Italiensehnsucht und pragmatischem Realismus, in dem sich die merk- und denkwürdigen Wege des Glücks bahnen oder auch nicht, wird im Libretto aufgebrochen mit vertonter Lyrik von Christian Lehnert, Librettist auch der Phädra. Sonette an die Schmetterlinge oder an den Sperling und das Glück für kleinen Chor sorgen für Wechsel in der Sprachebene. Auch die im Rückgriff auf Bach in einer musikalisch anderen Welt angesiedelten drei Traumsequenzen der Titelheldin geben dem Stoff eine Tiefenebene. Zwei Theater auf dem Theater-Einlagen – ein Prolog und ' Pulcinellas missratene Hochzeit' – brechen den Handlungsrahmen auf.

Mit einer geradezu umwerfenden Akribie und Detailbesessenheit hat sich das Regie- und Ausstattungsteam an Gisela! herangemacht. Der schwierig zu bespielende langgestreckte Raum der Zeche Zweckel - man erinnere sich an Christoph Marthalers Giacinto Scelsi-Abend Sauser aus Italien. Eine Urheberei bei der Ruhrtriennale 2007 (siehe hier) - wurde von Christof Hetzer kongenial in eine mit viel Liebe zur Perfektion konstruierte realistische Bahnhofslandschaft verwandelt, die auch Grundlage für eine funktionale Personenführung ist. Für die ersten vier Szenen ist es Napoli, Stazione Ferroviaria Centrale, dann nach einer kleinen Umbaupause für die Szenen Fünf bis Sieben Oberhausens Hauptbahnhof. Drei Spielflächen unter schwarzen Kuben, die sich für einzelne Szenen öffnen und als Projektionsflächen für filmische Einspielungen mit Giselas Traumszenen dienen, sind symmetrisch links, mittig und rechts im Bühnenvordergrund postiert, links ein naturgetreu nachgebautes Eisenbahnabteil heutiger Prägung; die Mitte: eine leere Spielfläche; rechts eine Trattoria. Der Regisseur der Uraufführung, Pierre Audi, Künstlerischer Leiter der Niederländischen Oper DNO in Amsterdam, geht auf den ironischen slapstickartigen Gestus des Librettos ein, wählt Mittel der derben Groteske und der Überzeichnung.

Dem Jugendorchester, das Studio musikFabrik-Jugendensemble des Landesmusikrats NRW mit etwa 45 Personen, an diesem Abend eine eher kammerorchestrale Formation, ist in jedem Augenblick die große Begeisterung und ein hohes Engagement für das neue Werk anzumerken. Auf Neue Musik geeicht sorgen sie unter der umsichtigen Leitung von Steven Sloane für ein exzellentes Henze-Klangbild, von den subtilen Feinheiten bis zu groben maschinenartigen Heftigkeiten. Beeindruckend souverän und homogen auch das Solistenensemble, allen voran Hanna Herfurtner als Gisela, Michael Dahmen als Hans Peter und Fausto Reinhart als Gennaro. Von hoher Perfektion auch der Jugendkammerchor der Chorakademie Dortmund und ein Ensemble von Tanz- und Schauspielstudenten der Folkwang Hochschule. Große Freude am Ende und standing ovations für Solisten, Chor, Dirigenten, vor allem aber für den sichtlich bewegten Hans Werner Henze.

Im November 2010 erlebt Gisela! an der Semperoper in Dresden, die das Werk zusammen mit der Kulturhauptstadt Europas 2010 und mit Unterstützung der Kunststiftung NRW in Auftrag gab, eine zweite Neuinszenierung mit einem vollständig anderen Team.

Dirk Ufermann

 















 Fotos: © Ursula Kaufmann