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Konzertant und exklusiv


 
 

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Zehn alte Gebote

Seit 37 Jahren treibt es die Freunde Alter Musik im November, während im Rheinland der Karneval eröffnet wird, ins Ruhrgebiet. Dort findet an vier Tagen eines der größten europäischen Festivals der Alten Musik statt. Veranstaltet wird es vom Westdeutschen Rundfunk in Kooperation mit der Stadt Herne. In diesem Jahr lautet das Motto: Die zehn Gebote.

Die Kleinstadt Herne, gleich neben Bochum gelegen, gehört wahrlich nicht zu den architektonischen Perlen des Ruhrgebiets. Und auch sonst gibt es wenig Gründe, die beschwerliche Fahrt über die baustellenüberfluteten Autobahnen nach Herne auf sich zu nehmen. Aber einmal im Jahr ist die Welt zu Gast im Kulturzentrum und den Nebenspielorten. Im November treffen sich international bekannte Künstler, um die Tage Alter Musik in Herne zu feiern. Spitzenensembles der europäischen Alte-Musik-Szene versammeln sich, um hier samt und sonders Debüts abzuliefern. An vier Tagen veranstaltet das Kulturradio des Westdeutschen Rundfunks gemeinsam mit der Stadt Herne zehn Konzerte, darunter immer auch Barockopern, die man sonst kaum hören kann. Ein Fest übrigens auch für die Gegner des Regietheaters. Die Opern werden ausschließlich konzertant aufgeführt, weil alle Veranstaltungen live oder zeitversetzt auf WDR 3 übertragen werden.

Da ein Festival immer auch ein Motto braucht, sind der Künstlerische Leiter Richard Lorber und seine Dramaturgin Sabine Radermacher in diesem Jahr auf die Zehn Gebote gekommen. Da lässt sich munter assoziieren und immer ein schöner Bezug herstellen. So bezieht sich das Eröffnungskonzert Geraubte Küsse, gestohlene Herzen der Compagnia di Punto am Donnerstagabend auf das Siebte Gebot Du sollst nicht stehlen. Ein interessanter musikalischer „Diskussionsbeitrag“ zur Urheberrechtsdebatte. Peter Reichelt verweist in seiner Begleitschrift auf den Wandel des Urheberrechtsgedankens: „Lange Zeit, solange nämlich, wie die Qualität einer Komposition am Grad der handwerklichen Ausarbeitung eines Gedankens gemessen wurde – und das war von der Renaissance bis weit ins Barockzeitalter der Fall – entzündete sich an dem Rohling des Gedankens selbst – sehr vereinfacht könnte man heute sagen: an der bloßen ‚Melodie‘ – kein Urheberrechtsbewusstsein.“ Das sollte sich erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts „im Zuge eines langsamen und vielstufigen Wandels hin zu einem originellen, noch in seinen kleinsten Teilen stark individuell geprägten Werkbegriff und einer rasant ansteigenden Opernproduktion“ ändern. Das Eröffnungskonzert macht diesen Wandel an einem bunten Mix aus Opernarien und Instrumentalmusik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts fest. Das neunköpfige Ensemble der Compagnia di Punto unter der Leitung von Christian Binde präsentiert Werke von Haydn, Danzi, Werner und Rosetti und begleitet die Sopranistin Raffaella Milanesi bei ihren Mozart-Arien. So entsteht, sieht man von der zudem noch wenig gekonnten Sprecheinlage ab, ein wunderbar kurzweiliger, abwechslungsreicher Abend, der leider nur von einem sehr kleinen Publikum wahrgenommen wird. Ein Teil der Zuschauerinnen und Zuschauer wandert gleich weiter in das nächste Konzert. Diesmal geht es um das Gebot Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren. Das fünfköpfige Ensemble Lyriarte spielt Musik von Johann Sebastian Bach und seinen Söhnen. Sic! Leider ist die wenige Meter vom Kulturzentrum entfernte Kreuzkirche in der Akustik nicht für diese zarten Klänge ausgelegt, so dass in den letzten Bänken nur noch wenig ankommt. Das soll sich schon am kommenden Nachmittag ändern, wenn Himmlische Cantorey und Echo du Danube unter der Leitung von Christian Zincke die Musik der Adjuvantenchöre aus thüringischen Kirchenarchiven präsentieren.

Höhepunkte in Serie

An grauen Novembertagen sind auch im Ruhrgebiet die Herzen der Menschen schwer zu erreichen. Da braucht es schon die Oper eines elfjährigen Wunderknaben, hochkarätige Solisten und eine Capella Augustina unter der Leitung von Andreas Spering, um das Feuer für die Alte Musik zu entfachen. Die Schuldigkeit des Ersten Gebots kommt mit einer vernachlässigbaren Handlung daher, hält sich musikalisch an tradierte Formen, bietet aber für die Solisten durchaus Herausforderungen. Johanna Winkel als Barmherzigkeit meistert ihre eher kurzen Auftritte makellos. Anna Palimina, Sopranistin aus dem Kölner Opernensemble, begeistert trotz bonbonfarbenen Kleides als Gerechtigkeit und Yeree Suh hat selbst Spaß an ihrem hellen Sopran, der dem Weltgeist wunderbare Koloraturen schenkt. Auch Lothar Odinius als Christ und der für Thomas Hobbs eingesprungene Andreas Karasiak verführen das Publikum im nunmehr gut gefüllten Saal des Kulturzentrums mit großartigen Mozart-Klängen. Einen letzten Höhepunkt bietet eine „Weltwiedererstaufführung“. Es hätte dieser merkwürdigen Wortschöpfung seitens der Veranstalter nicht gebraucht, um zu verstehen, dass es sich bei der Oper Der glückliche Liebeswechsel oder Paris und Helena von Johann David Heinichen aus dem Jahr 1710 um eine Besonderheit handelt.

Im Rahmenprogramm steht wieder einmal die Instrumentenmesse der Stadt Herne im Mittelpunkt, die in diesem Jahr im Foyer des Kulturzentrums stattfindet und historischen Tasteninstrumenten gewidmet ist. Da findet man sich schnell im Gespräch mit den Instrumentenbauern über ihre Kunstwerke wieder. Ein „kulturpolitisches Forum“, der Begriff ist vielleicht ein wenig hoch gegriffen, behandelt in einer einstündigen Podiumsdiskussion die Frage, welche Rolle heute die Barockoper – vor allem auch in den Stadttheatern – spielt. Ein Werkstattkonzert mit Studierenden des Instituts für Alte Musik der Hochschule für Musik und Tanz, Köln, unter der Leitung von Gerald Hambitzer schließlich stellt auch die Verbindung zur Jugend her, die das Festival ansonsten noch viel zu wenig beachtet. Denn auch bei der Alten Musik gibt es durchaus Klangwelten, die ein junges Publikum ansprechen.

Rund 3.600 Besucherinnen und Besucher nehmen an den zehn Konzerten teil, und die einhellige Meinung ist, dass es sich um das bislang beste Festival unter der Ägide Lorbers handelt. Im kommenden Jahr wird sich das Festival dann mit der hochinteressanten Alte-Musik-Szene in Osteuropa auseinandersetzen.

Michael S. Zerban, 12.11.2012

 


Geraubte Küsse, gestohlene Herzen:
Raffaella Milanesi und die Compagnia
di Punto verzaubern das Publikum mit
Mozart-Arien.


Stimmungsvolle Beleuchtung in der
Kreuzkirche. Die Akustik hat ihre
Tücken, aber die Stimmung wiegt
das auf.


Was der elfjährige Mozart leistete,
bringen Spitzensolisten in der
Begleitung der Capella Augustina
zu Gehör.


Historische Instrumente mal im
kleinen, mal im großen Ensemble,
immer aber taufrisch gespielt.


Herne ist keine Kathedrale der Alten
Musik. Hier darf es auch mal mit
Humor sein. Die entspannte
Atmosphäre trägt mit zum Erfolg
des Festivals bei.

Fotos: Claus Langer