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Buchbesprechung

Mauricio Kagels Buenos Aires (1946 - 1957)


Autorin



Christina Richter-Ibáñez ist Musikwissenschaftlerin und forscht in Tübingen und Stuttgart zum 20. Jahrhundert, zeitgenössischer sowie lateinamerikanischer Musik.


Kaufinformationen

Christina Richter-Ibáñez: Mauricio Kagels Buenos Aires (1946-1957) - Kulturpolitik – Künstlernetzwerk – Kompositionen

transcript

ISBN 978-3-8376-2662-9

Kartoniert, 342 Seiten, 40 Euro


Points of Honor                      

Buchidee

Stil

Erkenntnis

Preis/Leistung

Verarbeitung

Chat-Faktor


 

 

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Sehr speziell

Wer über Neue oder Zeitgenössische Musik spricht, meint immer auch Mauricio Kagel. Allerdings finden die Werke des Komponisten, der von 1957 bis zu seinem Tode 2008 in Köln lebte und wirkte, mittlerweile wenig Beachtung. Zu Unrecht, wie Rainer Nonnenmann, Professor für Neue Musik an der Musikhochschule Köln, in einem kurzen Porträt belegt. Christina Richter-Ibáñez hat sich in ihrer Dissertation einem sehr speziellen Ausschnitt in Kagels Leben gewidmet. Auf annähernd 350 Seiten beleuchtet die Musikwissenschaftlerin das Wirken des Komponisten – oder besser: des angehenden Komponisten – in seiner Zeit in Buenos Aires bis zu seiner Emigration nach Deutschland. 1946, also kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, Mauricio war 14 Jahre alt, begann in Argentinien eine neue Ära. Juan Perón kam an die Macht und begann eine Schreckensherrschaft, deren Auswüchse bis heute nicht vollständig aufgeklärt sind. Erinnert sei hier nur an die Operación Massacre oder den Umgang mit den aus Deutschland geflohenen Massenmördern. Es war eine Zeit des Umbruchs und der Gleichschaltung.

Es ist nicht Aufgabe der Musikwissenschaft, die Diktatur in Argentinien aufzuarbeiten, und so konzentriert sich Richter-Ibáñez scheinbar folgerichtig auf das kulturelle Schaffen in der Hauptstadt. Mauricio erlebte einerseits die Verarmung der Kultur durch die Gleichschaltung von Medien, Kultur- und Bildungseinrichtungen, andererseits kam er mit den meisten bedeutenden Musikern wie Pierre Boulez, Michael Gielen oder Juan Carlos Paz zusammen, bevor der große Exodus einsetzte. Ein Spannungsfeld also, indem es sich vortrefflich forschen lässt. Die Autorin widmet sich der Medien-, Kultur- und Bildungspolitik, um dann das Musikleben und seine Vernetzung in Buenos Aires näher zu untersuchen. Das ist interessant. Dabei verfolgt sie einen eher konservativ-wissenschaftlichen Ansatz, lässt also die holistische Sichtweise weitgehend außer Acht, was zu einer gewissen Blutleere führt. Der Missklang entsteht, wo Richter-Ibáñez konsequent die Bedeutungslosigkeit von Kagel nachzuweisen versucht. Da wird auf „Erinnerungslücken“, falsche oder widersprüchliche Aussagen des älteren Kagel verwiesen. Das irritiert und geht an der Bedeutung des Musikers vorbei. Was leistet ein im besten Sinne durchschnittlicher Pubertierender oder auch Teenager? Er lernt. Er unternimmt erste Schritte. Er zeigt möglicherweise in einem ersten Aufblitzen das Genie, das er später einmal werden wird. Und da macht es – auch aus wissenschaftlicher Sicht – wenig Sinn, ihm Bedeutungslosigkeit vorzuwerfen, die er in der Rückschau gerne hübscht oder schlicht anders wahrnimmt.

Nach der Lektüre des Buches Mauricio Kagels Buenos Aires (1946 - 1957) – die Dissertation ist jüngst bei transcript erschienen – bleibt der Leser etwas ratlos zurück, weil ihm bei aller Akribie der Arbeit nicht recht klar wird, was die Autorin hier eigentlich belegen will. Völlig unklar bleibt auch, warum sich der junge Kagel zu einem der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts entwickeln sollte.

Lesenswert ist das Werk dennoch, weil es – abseits vom Schaffen Kagels – aufzeigt, dass Gleichschaltung von Kultur in Diktaturen, egal in welchem Land, immer zur Verarmung der Kultur führt. Aber auch, dass es immer Unentwegte gibt, die sich dagegen auflehnen, zivilen Ungehorsam zeigen und „in den Untergrund“ gehen. Und das macht Mut in Zeiten, in denen die Politik einer Demokratie versucht, Kultur auf ökonomischem Wege abzuwürgen.

Michael S. Zerban, 1.12.2014