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Instrumentales Theater


 
 

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Mit ungewohntem Blick

Längst vergessen scheint das „instrumentale Theater“. Und doch hat Mauricio Kagel damit neue Wege der Musikalität und ihrer Rezeption beschritten und war damit Wegbereiter für die Multimedia-Lust jüngerer Komponisten. Eine Würdigung des Argentiniers, der sein Leben in Köln verbrachte.

Mauricio Kagels große musikhistorische Leistung ist sein Konzept des „instrumentalen Theaters“, mit dem er das Musikleben in all seinen Funktionen, Konventionen, Ritualen, Aufführungspraktiken und Erscheinungsformen gleichsam wie ein Ethnologe von außen gründlich unter die Lupe genommen und die Musik der Tradition durch kompositorische Umsetzung eben dieses analytischen Blicks von innen heraus auf erhellende Weise neu beleuchtet oder gegebenenfalls auch über Bord geworfen hat. Als Sohn russisch-ukrainisch-deutscher Immigranten an Heiligabend des Jahres 1931 in Buenos Aires geboren, schien Kagel für diese Beobachterrolle wie prädestiniert, bewegte er sich doch sein Leben lang zwischen verschiedenen Kontinenten, Kulturen, Sprachen, Stilen und Sparten. Statt Musiker außermusikalische Handlungen darstellen und also Theater spielen zu lassen, ließ er sie einfach als Musiker an und mit ihren Instrumenten agieren, aber doch so, dass sie durch kleine, von der Norm abweichende Gesten, Blicke, Handlungen, Spielweisen den Fokus der Aufmerksamkeit auf unhinterfragte Normierungen der üblichen Aufführungspraxis zurücklenkten.

Seit Sur scene 1962 thematisierte Kagel in zahlreichen Hör- und Schaustücken die Rahmenbedingungen der Produktion und Rezeption von Musik. Was normalerweise hinter der Bühne im Verborgenen bliebt, zog er vor den Vorhang ins Scheinwerferlicht, so auch den Alltag von Musikern mit Üben, Stimmen, Proben, Auf- und Abtreten, Kommunikationsweisen, Sozialstrukturen, Fehlleistungen, Altern, körperlichen Gebrechen und so weiter. Mit der Freiheit des Narren hielt Kagel dem bürgerlichen Musikleben den Spiegel vor, um verdrängte Wahrheiten aufzudecken und ins Bewusstsein zu heben. Durch seine liebevollen bis satirischen Demontagen altehrwürdiger Gattungen, etwa in seinen Streichquartetten I und II aus den Jahren 1965 und 67 provozierte er das konservative Publikum und brachte zugleich die Avantgarde gegen sich auf, die in ihrer Fixierung auf materialen Fortschritt und konstruktive Stimmigkeit und Reinheit in Kagels Eulenspiegeleien regressive Rückfälle zu Klamauk und tonalen Hörerwartungen witterte.

Bei aller Eigenständigkeit steht Kagels Schaffen gleichwohl nicht isoliert da. Vielmehr ist es im Zusammenhang mit zentralen künstlerischen Strömungen der späten 1950-er und 60-er Jahre zu sehen. Wie bei der konkreten Kunst, Musik und Poesie findet sich auch bei ihm der konkretistische Ansatz, die spezifische Materialität und Körperlichkeit des Klangs und die Haptik von dessen Hervorbringung – mit welchen Gerätschaften oder Instrumenten auch immer – in Szene zu setzen, um die Aufmerksamkeit des Hörer-Betrachters auf die in ihrer Selbstverständlichkeit zumeist übersehene Kausalität von Ursache und Wirkung zu lenken. In Acustica, entstanden zwischen 1968 und 70, entfaltet er ein Panakustikum aus vielstimmigem Schwingen, Schallen, Tönen, Tröten, Kratzen, Scheppern, Knistern… Darüber hinaus folgen Kagels Arbeiten dem damals im Zuge von Happening und Fluxus allgemein verbreiteten spartenübergreifenden Denken.

Grenzüberschreitende Musikalität

Statt die traditionellen Disziplinen und Gattungen „klassisch“ für sich zu denken, sollten verschiedene Künste, Medien und Materialien gekreuzt werden, um gleichzeitig mehrere Sinne anzusprechen und wahlweise durch Sich-Decken oder Auseinanderklaffen von Sicht- und Hörbarem auf die in ihrer Selbstverständlichkeit in der Regel übersehene und überhörte Relation von Ursache und Wirkung hinzuweisen. Schon in seiner Studienzeit in Buenos Aires und dann seit 1957 in Köln entfaltete Kagel sein Multitalent als Komponist, Dirigent, Instrumentalist, Sänger, Schauspieler, Regisseur, Dramaturg, Autor, Filmer, Zeichner, Instrumentenbauer, Hörspiel- und Theatermacher mit erfrischend kindlich-anarchischer Lust am Spiel, Erfinden und Ausprobieren. Wenige andere Künstler arbeiteten auf so vielen verschiedenen Feldern. In der Einbeziehung mehrerer Medien sah Kagel die große Chance, Musik mit der außermusikalischen Wirklichkeit und anderen Erfahrungsbereichen zu verbinden. Gerade darin ist Kagels „instrumentales Theater“ aktueller denn je, denn gegenwärtig zielen viele Vertreter der momentan jüngsten Komponistengeneration mit ganz ähnlichen intermedialen Mitteln nach Welthaltigkeit, Wirklichkeitsbezügen und gesellschaftlicher Relevanz ihrer Musik, auch wenn sie vielfach kaum mehr etwas von Kagel wissen.

Seit den 1970-er Jahren setzte sich Kagel verstärkt mit den Größen des klassisch-romantischen Repertoires auseinander, mit Beethoven, Bach, Händel, Schubert, Schumann, Brahms sowie mit Film-, Militär-, Zirkus-, Tanz- und Unterhaltungsmusik. Mit seinem Ansatz einer „seriellen Tonalität“ schien er Unvereinbares versöhnen und augenzwinkernd signalisieren zu wollen, dass auch der noch so radikal sich gebende Traditions- und Tabubruch der neuen Musik nicht gar so ernst zu nehmen sei. Zugleich weisen viele seiner späteren Arbeiten kaum mehr Szenisches auf. Im Vergleich zu denen der 60-er Jahre lassen sie auch Biss, Witz und kritische Distanz gegenüber den traditionellen Formen und Gattungen vermissen. Nach den polemischen Anfangsjahren strebte Kagel offenbar wieder nach eben jener klassischen Meisterschaft, die er zuvor karikiert hatte. Bei allen Subtilitäten der Instrumentation, Harmonik und Anspielungen auf Traditionen sind viele seiner mittleren und späteren Werke neokonservative Orchester- oder Kammermusik.

Einseitige Wahrnehmung

Auch machte sich seit den 1980-er Jahren in vielen Werken ein lexikographischer Zwang zur Vollständigkeit breit. Statt schlaglichtartig und pointiert einen bestimmten Aspekt zu zeigen, hatte seine Musik nun riesige Textmengen abzuarbeiten, oft auch alphabetisch geordnete Begriffe aus Wörterbüchern. Manche dieser Stücke wurden je länger desto dünner – und langweiliger. Dass gegenwärtig vor allem Kagels „normale“ Instrumentalwerke gespielt werden, die während seiner letzten drei Jahrzehnte vor seinem Tod 2008 entstanden, liegt auch an den Interpreten, für die diese Werke entstanden, während die Uraufführungsinterpreten seiner früheren Werke nicht mehr aktiv oder bereits verstorben sind. Die Einengung auf einige wenige immer wieder aufgeführte und häufig auf CD eingespielte Stücke – etwa die drei Klaviertrios von 1985, 2001 und 2007 oder die Stücke der Windrose von 1988 und 94 – zeichnet ein schiefes Bild von Kagels etwa zweihundert Werke umfassendem Œuvre. Dieses ist viel reicher, vielseitiger und spannender, als momentan in Konzert, Theater, Fernsehen, Radio und auf CD zu erleben. Daher gilt es Kagel heute neu zu entdecken, vor allem die bleibende Aktualität seiner frühen Arbeiten des „instrumentalen Theaters“ der 1960-er Jahre.

Rainer Nonnenmann, 1.12.2014

 


Mauricio Kagel verbrachte seine Jugend
in seiner Geburtsstadt Buenos Aires.
Seit 1957 lebte der Komponist in Köln.


Die Probierlust des Komponisten
kannte in jungen Jahren kaum
Grenzen. Hier eine Aufnahme mit
außereuropäischen Instrumenten.


Kagels musikhistorische Bedeutung
liegt vor allem in der Entwicklung des
instrumentalen Theaters.


Spezifische Materialität und
Körperlichkeit des Klangs und die
Haptik dessen Hervorbringung gehören
zum konkretistischen Ansatz Kagels.