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Aktuelle Aufführungen

Erotische Handfessel

NACKTE TATSACHEN
(Kerry Renard)

Besuch am
30. Januar 2022
(Premiere am 28. Januar 2022)

 

Breuersaal, Wuppertal

2018 veröffentlichte Kerry Renard ihre Komödie The Faked Truth. 2019 wurde sie in der deutschen Übersetzung von Angela Burmeister unter dem Titel Nackte Tatsachen in der Komödie am Altstadtmarkt Braunschweig erstmals aufgeführt. Jetzt ist sie in Wuppertal in Stößels Komödie angekommen. Und von dort gibt es erst mal gute Nachrichten. Denn die wunderbare Spielstätte Breuer-Saal am Laurentiusplatz bleibt möglicherweise nicht nur bis zum Sommer, sondern zwei Jahre länger erhalten. Die ist für einen Sonntagabend erstaunlich gut besucht. Unterhaltung steht derzeit hoch im Kurs.

Die Kanadierin Renard schafft eine zunächst scheinbar völlig absurde Situation. Zwei Männer, gute Freunde, der eine Anwalt, der andere Zahnarzt, wachen morgens nach einem Tennismatch und gemeinsamen Abend mit einer Flasche Wein nebeneinander im Gästebett des Anwalts auf – nackt und mit Handschellen aneinandergefesselt. Da es sich um zwei heterosexuelle Männer handelt, ist das Entsetzen groß. Zumal die beiden von der verfrühten Rückkunft von Anwalt Olivers Frau Emily auf der Schlafcouch im Wohnzimmer überrascht werden. Die Bühne ist wie immer liebevoll und detailliert ausgestattet. Martin Jansen hat die nötigen Lichtspiele wunderbar im Griff, nur beim Klingeln des Handys hätte man ihm eine bessere Lösung zugetraut. Denn das klingt eher, als werde es von draußen über die Saallautsprecher eingespielt, anstatt aus einer Hose auf der Bühne zu erklingen, wo es eigentlich hingehört.

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Schnell stellt sich heraus, dass die Eingangssituation noch die weitaus harmloseste im ganzen Spiel ist. Und mehr ist über die Geschichte an dieser Stelle auch gar nicht zu erzählen, denn sie lebt von überraschenden Wendungen – und ob sie gut ausgeht, muss am Ende jeder für sich selbst entscheiden. Bis dahin gibt es jede Menge komischer Dialoge und viel nackte Haut.

Kristof Stößel, der auch Regie führt, hat fast alle Rollen doppelt besetzt. Zum einen kann so häufiger gespielt werden, zum anderen weicht er dauernden Absagen wegen Krankheitsfällen aus, die gerade an anderen Theatern zum Tagesgeschäft werden. Der heutige Abend ist erstklassig besetzt. Stößel selbst übernimmt die vergleichsweise undankbare Rolle des Zahnarztes Michael, der zwar vor allem in der ersten Hälfte starke Auftritte hat, dann aber mehr und mehr aus dem Geschehen drängt. Bereits im letzten Stück – Bäumchen wechsel dich – hatte Vollblutschauspieler Stößel als Stripper viel Kleider lassen müssen. Offenbar konnte das sein Selbstbewusstsein aber nur stärken. Ganz nackt würde er wohl nicht auftreten, deshalb behält er die schwarzen Socken an. Und den Schalk im Nacken. Die schönsten Momente für Stößel sind ja bekanntlich, wenn er auf das Publikum reagieren kann. Das amüsiert sich an diesem Abend königlich, will aber partout passiv bleiben. Trotzdem gibt es herrliche Momente, wenn etwa Michael auf Emilys Rücken erklärt, wo Rio de Janeiro liegt. Da juchzen die Zuschauer vor Vergnügen. Da muss Zweitbesetzung Dirk Stasikowski, der gerade seine Udo-Jürgens-Gala wieder aufgenommen hat, ganz schön Gas geben, um das Niveau halten zu können. Zweifel daran bestehen allerdings nicht im Geringsten.

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Der einzige, der in dieser Produktion nicht krank werden darf, ist Jan Phillip Keller, der den Anwalt Oliver spielt. Am Ende des Stücks werden die Zuschauer überzeugt davon sein, dass es kaum einen ätzenderen und selbstherrlicheren Typen als Oliver im Umgang mit Frauen gibt. Sehr schön, wie er sich fehlerfrei um Kopf und Kragen redet. Das darf er vor allem in der zweiten Hälfte zeigen. Zuvor ist es aber vor allem Safak Pedük, die den Abend in Sachen Komik als Emily ganz weit nach vorn bringt. Sie überdreht vollkommen, als sie die beiden Männer im Bett vorfindet, dagegen ist eine Commedia dell’arte eher ein Trauermarsch, da würden selbst die Stummfilmdiven aus Hollywood blass vor Neid. Allerdings verlangt das eine körperliche Anstrengung, die mit einem einwandfreien Textfluss kaum noch vereinbar ist. Und da ist es schon bemerkenswert, dass sie sich nach einem Stolperer schnell wieder im Griff hat. Michèle Connah als ihre Zweitbesetzung ist ja ebenfalls bekannt für ihre Spielfreude. Da wird sie Stößel als Regisseur ziemlich ins Training nehmen müssen.

Stefanie Krüger übernimmt die Rolle von Michaels Ehefrau Nicole, ebenfalls Zahnärztin, die erst spät ins Spiel kommt, aber vor allem durch ihre blitzschnelle Wandlungsfähigkeit zu begeistern weiß. Sie schließt den inzwischen Marillenschnaps-seligen Reigen wunderbar. Sie ist es auch, die den Charakter Olivers entlarvt und die Geschichte zu einer vom Zeitgeist gewünschten Auflösung führt. Das wird Sandy Schlumm in der alternierenden Besetzung aber mindestens ebenso gut gelingen.

Wer sich also von einer modernen Boulevard-Komödie hervorragend unterhalten lassen möchte, braucht bei der Terminsuche nicht auf die Besetzung zu achten. Im Wuppertaler Breuer-Saal ist Spaß für zwei Stunden garantiert. Bis zum 13. März sind noch Aufführungen geplant, und glaubt man der Begeisterung des Publikums am heutigen Abend, ist ein Besuch auf jeden Fall lohnenswert.

Michael S. Zerban