Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
BARVINSKY UND SKORYK
(Vasyl Barvinsky, Myroslav Skoryk)
Besuch am
10. September 2023
(Einmalige Aufführung)
Das schönste Bild eines Festivals ist nicht etwa die originell dekorierte Bühne, und es sind auch nicht die großartigen Kostüme der Künstler. Nicht sattsehen kann man sich an den Helfern, die zusätzliche Stuhlreihen aufstellen müssen, weil mehr Besucher gekommen sind, als man erwartet hat. So geschieht es gerade im Pfarrsaal der Kirchengemeinde St. Germanus in Wesseling. Hier findet das dritte Konzert des ersten Festivalwochenendes von Sounds of Ukraine statt, dem Festival, mit dem sich die Konzertpianistin Violina Petrychenko nicht nur einen Traum erfüllt hat, sondern mit dem sie vor allem die ukrainische klassische Musik in Deutschland bekannter machen will. Am Freitag gab es mit der Geigerin Natalia Gordeyeva und Petrychenko am Flügel eine Reise durch vier Jahrhunderte ukrainischer Musikgeschichte unter dem Titel Ukrainisches Poem, der Samstag gehörte mit der Ukrainischen Romanze dem Gesang, den Lilia Nikitchuk fabelhaft in der Kirche darbot, und nun geht es wieder zurück in den Pfarrsaal, wo die Besucher zwei bedeutende Komponisten der jüngeren Vergangenheit näher kennenlernen sollen. Zu dem kammermusikalischen Abend finden sich neben der Festivalleiterin am Flügel auch Gordeyeva und der Cellist Maksyn Rymar ein. Letzterer ist wie Nikitchuk eigens aus Lemberg angereist, einer Stadt, die heute Abend noch eine besondere Rolle spielen wird.
Foto © Oliver Motz
Lwiw, wie die Stadt im früheren Ostgalizien und der heutigen Westukraine in der Landessprache heißt, ist historisches Monument, Schmelztiegel der Kulturen und Objekt der Begierde für viele Nationen zugleich. Allein die Geschichte dieser Stadt zu erfassen, könnte ein eigenes Festival-Thema sein. Für den heutigen Abend muss das Wissen reichen, dass aus dieser Stadt zahlreiche bedeutende Persönlichkeiten stammen oder in ihr gewirkt haben. Eine davon ist Vasyl Barvinsky, 1888 im damals österreichischen Ternopil geboren. Er studierte Musik und anschließend Jura in Lemberg, vollendete seine Studien der Musik in Prag. Er wurde Komponist, Pianist, Musikkritiker, Hochschullehrer und Dirigent. Neben vielen Jahren der Lehrtätigkeit am Höheren Musikinstitut Lyssenko und später am Konservatorium von Lwiw schuf er ein umfangreiches kompositorisches Werk. 1948 fiel er in Ungnade des russischen Ministeriums für Staatssicherheit, was ihm und seiner Frau zehn Jahre Lagerhaft in Sibirien sowie die Vernichtung seiner Manuskripte einbrachte. Nach seiner Entlassung 1958 kehrte er nach Lwiw zurück und begann – wenig erfolgreich – mit der Wiederherstellung seiner Notentexte. 1964, ein Jahr nach seinem Tod, er wurde 75 Jahre alt, wurde er rehabilitiert. Damit konnte die Arbeit an der Rekonstruktion seiner Werke fortgesetzt werden. Unter anderem bearbeitete Mykola Lysenko seinen Traum für Cello und Klavier, der nun in Wesseling in einer deutschen Erstaufführung erklingt. Das Stück erinnert am ehesten an eine Fantasie, eine Musik also, die sich bewusst Konventionen widersetzt. Damit irritiert er ebenso wie mit den Titeln der Sätze aus der nachfolgenden Suite, gleichfalls für Cello und Klavier.
Die Einleitung wirkt eher ruhig und getragen. Unter einer Humoreske, so der Titel des zweiten Satzes, versteht man in der Musik die „Bezeichnung für ein kurzes, heiteres, lustiges oder komisches Instrumentalstück“. Bei Barvinsky kommt die Musik im Vergleich zur Einleitung zwar etwas flüssiger und leichtfüßiger daher, aber von Humor kann wirklich nicht die Rede sein. Auch beim Wiegenlied schüttelt man verwundert den Kopf. Von der erwarteten Zartheit oder gar Zärtlichkeit kann hier nicht die Rede sein. Und beim Tanz sind die eigentlichen Tanzelemente äußerst spärlich gesetzt. Um Missverständnissen vorzubeugen: Den beiden Musikern gelingt ein vorbildlicher Vortrag. Offenbar gibt es bei den Begrifflichkeiten Unterschiede im Verständnis. Zum nachfolgenden Wiegenlied, bei dem die drei zum ersten Mal gemeinsam auftreten, weiß auch Petrychenko keine wirkliche Erklärung des Titels. „Nehmen Sie es einfach als ein wunderschönes ukrainisches Lied“, erklärt sie fröhlich. Also braucht man sich keine weiteren Gedanken darüber zu machen, was an dem Werk, das fragmentiert immer neue Ideen nebeneinanderstellt, ein Wiegenlied sein sollte und kann sich ganz auf den Genuss des hervorragenden Zusammenspiels insbesondere der Streicher einlassen, die hier mehr als einmal gefordert werden.
Foto © Oliver Motz
Der nächste Mann des Abends ist Held der Ukraine und Volkskünstler der Ukraine. Myroslav Skoryk wurde 1938 in Lwiw geboren und starb vor drei Jahren in Kiew. Er studierte in Lwiw und Moskau, arbeitete als Komponist und Musiklehrer. Seine Karpatische Rhapsodie für Violine und Klavier hat das Zeug zum Ohrwurm. Davon konnten sich bereits die Besucher am Freitag überzeugen, als das Stück bereits als Zugabe zu hören war. Schon da überzeugte Gordeyeva, aber heute breitet sie ihre Schwingen aus und spielt noch einmal befreiter auf. Mit A-RI-A für Cello und Klavier hebt Skoryk Genre-Grenzen auf, und Rymar weiß das perfekt umzusetzen. Wie später zu erfahren sein wird, wird die Elegie, die als nächstes auf dem Programm steht, „aus Zeitgründen“ gestrichen. Die Zeit allerdings hätte sich das Publikum gern noch genommen. Stattdessen wird das dreisätzige Trio für Violine, Cello und Klavier zur Aufführung gebracht. „Drei Sätze, die man nicht zu ernst nehmen sollte“, unterstreicht Petrychenko den Unterhaltungscharakter des Stücks. Gebannt lauscht das Publikum, wie im ersten Satz die Instrumente auseinanderfallen, die Melodien rudimentärer werden, im zweiten Satz ein romantisches Streicherduett von einem schon an einen Trauermarsch erinnernden Klaviereinsatz abgelöst wird, ehe alle wieder zueinanderfinden, um allmählich zu verebben. Im dritten Satz sorgt ein Walzer für Entspannung. Dass zum Finale des Festivalwochenendes zeitgenössische Musik vom Feinsten präsentiert wird, fällt hier überhaupt niemandem auf. Das ist mutig und grandios. Da dürfen die Musiker sich bei der Zugabe ganz entspannt dem hingeben, was schon Skoryk ausgezeichnet hat. Seine Konzerte endeten stets mit der Melodie, einem Stück, was längst zur zweiten Hymne der Ukraine avanciert ist.
Was bleibt am Ende dieses Wochenendes, dass das Publikum abermals minutenlang im Stehen feiert? Violina Petrychenko hat gemeinsam mit einem herausragenden Team eine Vision verwirklicht – und die Büchse der Pandora geöffnet. Sie hat bereits angekündigt, das Festival nun jährlich stattfinden zu lassen. Das Streichorchester steht bereits auf der Wunschliste. Und die Reaktionen des Publikums geben ihr recht. Viel Arbeit steht also an, um die Kultur der Ukraine in Deutschland bekannt zu machen und damit dafür zu sorgen, dass ein Volk, das angegriffen wurde, Verständnis und Unterstützung in einem Land findet, das die Mittel und Möglichkeiten hat, eben dafür zu sorgen. Das nächste Konzert findet im November in Monheim am Rhein statt.
Michael S. Zerban