O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Oliver Motz

Aktuelle Aufführungen

Bis unter die Haut

UKRAINISCHES POEM
(Diverse Komponisten)

Besuch am
8. September 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Sounds of Ukraine, Pfarrsaal von St. Germanus, Wesseling

Wesseling? Das ist doch ein Stadtteil von Köln? Nein! Wer das behauptet, lügt – oder lässt sich von seiner Erinnerung leiten. Da gab es doch die Zeit, als Köln mit aller Macht und also mit Eingemeindungen auf Teufel komm raus versuchte, zur Millionenstadt zu werden. Fast wäre das 1975 auch gelungen. Wenn die Stadt Wesseling sich nicht gegen ihre Eingemeindung gewehrt hätte. Auf dem Klageweg erhielt die rund 39.000 Einwohner umfassende Stadt ihre Selbstständigkeit mit Wirkung vom 1. Juli 1976 zurück. Und es sollte noch bis 2010 dauern, bis für Köln der Traum der Millionenstadt in Erfüllung ging. Wesseling grenzt aber bis heute als eigenständige Stadt im Rhein-Erft-Kreis an den Süden von Köln. Der erste Blick von der Autobahn aus in Richtung Wesseling zeigt Hochhäuser. Der zweite Blick fällt auf das, was die Stadt bis heute ausmacht. Drei Chemiewerke und eine Erdölraffinerie beherrschen mit ihren imposanten Industrieanlagen das Bild.

Und doch könnte es sein, dass in diesem Umfeld Musikgeschichte geschrieben wird. Denn die Kirchengemeinde von St. Germanus, einem katholischen Gotteshaus aus dem Jahr 1894 in unmittelbarer Nähe des Stadtzentrums, hat ihre Räumlichkeiten kostenlos für ein neues Festival zur Verfügung gestellt. Sounds of Ukraine ist das erste Festival für ukrainische klassische Musik in Deutschland. Verantwortlich dafür zeichnet Violina Petrychenko, die seit vielen Jahren bereits daran arbeitet, die ukrainische Musik in Deutschland bekannter zu machen und seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine ihre Bemühungen noch erheblich intensiviert hat. Eigentlich studierte Konzertpianistin wusste sie, dass es ein solches Festival eigentlich unbedingt geben müsste, aber dass sie es ist, die es ins Leben ruft, hätte sie sich vor einem Jahr noch nicht träumen lassen. Jetzt wird es Wirklichkeit.

Jede Spur von Größenwahn geht ihr ab, deshalb war ihr klar, dass sie es erst mal in einem überschaubaren Rahmen angehen lassen wollte. Nun also findet das erste Konzert dieses Festivals statt. Ukrainisches Poem – Kammermusik für Violine und Klavier lautet der Titel. Und statt der dreischiffigen Basilika wählt die Musikerin als ersten Spielort den gleich daneben befindlichen Pfarrsaal der Kirchengemeinde aus. Die Proben haben gezeigt, dass die Geige ihren Klang besser in dem Saal als in der Größe der Kirche entfalten kann. Eine Entscheidung, die Professionalität über Eitelkeit stellt.

Foto © Oliver Motz

Violina Petrychenko und Natalia Gordeyeva werden also den ersten Abend des Festivals bestreiten. Die beiden kennen sich aus Studientagen in Kiew. Die eine ging nach Köln, um ihre Studien am Klavier zu vervollkommnen, und blieb da, die andere ging in die Schweiz, kehrte aber nach ihrem Studium der Geige in die Heimat zurück, um dort eine Musikschule zu eröffnen. Mit Ausbruch des Krieges floh Gordeyeva nach Dänemark, wo sie bis heute lebt. Die Freundschaft der beiden blieb bestehen, und so scheint es ganz selbstverständlich, dass Gordeyeva nach Wesseling kommt, um ihr Scherflein zum Festival beizutragen.

Der Raum ist überraschend kühl – in mehrfacher Hinsicht. Gegen die Temperatur hat niemand der zahlreich erschienenen Besucher etwas, immerhin hat man den Tag bei Temperaturen um die 30 °C verbracht, da ist so eine Abkühlung ganz prima. Vergeblich sucht man irgendwelchen Schmuck wie beispielsweise blaugelbe Fahnen in dem Saal, der mit einer Bühne ausgestattet ist. Vor der Bühne steht ein alter, schmuckloser Flügel, davor ein Notenpult. Die Stuhlreihen füllen großzügig den Saal, und das war es. Auch die beiden Künstlerinnen tragen keine nationalen Farben zur Schau, allein die Stickereien bei der einen auf der weißen Bluse, die sie zur schwarzen Hose trägt, bei der anderen noch dezenter auf dem schwarzen Kleid, deuten auf ihre Heimat hin. Denn Gordeyeva und Petrychenko geht es nicht um Politik, sondern um Musik. Überwiegend jedenfalls.

Petrychenko moderiert den Abend, der mit einem deutschen Komponisten beginnt. Ludwig van Beethoven hat Variationen über ein ukrainisches Volkslied komponiert, die nun vorgetragen werden und eine schöne Brücke von Deutschland in die Ukraine darstellen. Gleich danach geht es auf die Reise in die ukrainische Seele. Mykola Lysenko, den Petrychenko als den Beethoven der Ukraine bezeichnet, komponierte eine Elegie zum Gedenken an Taras Schewtschenko, dem bedeutendsten ukrainischen Lyriker. Seine Dichtung trug stark zur Entwicklung der modernen ukrainischen Sprache und zum Erwachen des ukrainischen Nationalbewusstseins bei.

Foto © Oliver Motz

Mit einem Bonbon schließen die Musikerinnen eine Doppelnummer an. Von Viktor Kosenko erklingen Träume, das eindrucksvollste Stück, weil es wirklich träumerisch daherkommt, was auch daran liegen mag, dass Gordeyeva mit auswendigem Vortrag zur Höchstform aufläuft. Sie unterstreicht damit den Gesamteindruck des Abends. Die Souveränität der beiden ist eindrucksvoll. Nach Stanislaw Ljudkewitschs Golosinnya steht die nächste Zäsur des abwechslungsreichen Programms an. Denn nun erklingt das Stück des dänischen Komponisten Morten Jessen, der 1985 geboren ist, ein Freund von Gordeyeva. Er hat unter dem Eindruck der jüngsten Ereignisse versucht, in einer Suite ein musikalisches Bild Kiews zu zeichnen, was ihm nach Auskunft Petrychenkos bestens gelingt. Die Musik klingt eher romantisch als zeitgenössisch, allein dramatische Spitzen erinnern an wunderbare Filmmusik. Das macht Lust, einmal die gesamte Suite zu hören. Die Pianistin verspricht da allerdings eher Vages für die Zukunft.

Ein wunderbarer Stilwechsel, der noch einmal richtig Schwung in den Ablauf bringt, gelingt mit den drei Stücken von Julius Meitus Poeme, Nocturne und Allegro. Ein „barbarisches“ Allegro nennt es Gordeyeva spaßhaft, die sichtlich Vergnügen daran findet, in Richtung Korsakovs Hummelflug davonzuziehen. Das Notenpult hat sie dazu vorsorglich beiseite gestellt und abermals ihren Vortrag steigern können. Das Publikum ist elektrisiert – da ist es Zeit für das nächste Wechselbad der Gefühle.

„In Gedanken an all die, die im Krieg gestorben sind“ will Petrychenko das folgende Stück verstanden wissen. Maksym Shalydin, ebenfalls Jahrgang 1985, hat Angel im vergangenen Jahr komponiert. Gordeyeva und Petrychenko rücken enger zusammen, Gordeyeva nimmt auf der Sitzbank Platz, es ist Zeit für eine Gedenkminute. Und das, was die beiden dann zu Gehör bringen, geht bis unter die Haut. Langsam, klagend streicht der Bogen über die Saiten, während erst die Töne, dann dramatisch die Akkorde aus dem Flügel tropfen. Ja, hier steigen Engel zum Himmel hinan, aber es ist ein trauriger Weg, der über keine Regenbogenbrücke führt. Erst im letzten Moment wird die Musik strahlender – mischt sich da doch ein wenig Hoffnung in diese verdammte Trauer.

Bei aller Liebe, das wollen auch die beiden Musikerinnen so nicht stehen lassen. So lässt man Freunde nicht nach Hause gehen. Also gibt es von Myroslav Skoryk erst die Karpatische Rhapsodie, bei der vor allem Gordeyeva noch einmal alle Register ziehen darf, und dann aber endgültig die Melodie. Das Publikum steht Kopf, na ja, im übertragenen Sinne jedenfalls. Aber was viel schöner als der langanhaltende Applaus im Stehen ist, dass sich die Besucher voneinander verabschieden, als hätten sie in einer Gemeinschaft zusammengefunden und jedem klar ist, dass man sich am nächsten Abend wiedersieht. Dann steht ein Liederabend in der Kirche an. Die Vorfreude ist groß.

Michael S. Zerban