O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Oliver Motz

Aktuelle Aufführungen

Ringelblumen und Heimatgefühle

UKRAINISCHE ROMANZE
(Diverse Komponisten)

Besuch am
9. September 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Sounds of Ukraine, Kirche St. Germanus, Wesseling

Bei näherer Betrachtung müsste jedem klar sein, dass der Termin kaum unglücklicher gewählt sein könnte. Dass Wesseling nicht unbedingt als Festivalort bekannt ist: geschenkt. Da gibt es noch ganz andere Orte, wo die Menschen hinreisen, wenn sie ein Festival besuchen wollen. Aber nicht an einem Samstagnachmittag um 18 Uhr bei schönstem Sommerwetter. Noch dazu, wenn die Wettervorhersage verkündet hat, dass es im Grunde die letzte Chance für einen sommerlichen Ausflug respektive Grillabend ist, ehe in der kommenden Woche das Wetter wieder umschlägt. Aber nach dem gestrigen überragenden Auftakterfolg des Festivals Sounds of Ukraine, das zum ersten Mal in Deutschland die klassische Musik des im Krieg liegenden Landes feiert, will sich keiner der Beteiligten entmutigen lassen. Auch dann nicht, wenn auf dem Abendzettel ein Programm steht, das kaum automatisch Menschenmassen anzieht. Ein Liederabend in ukrainischer Sprache, das klingt eher nach etwas für Spezialisten.

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Das katholische Gotteshaus St. Germanus stammt aus dem Jahr 1894 und wurde von dem Architekten Theodor Kremer als dreischiffige Basilika mit zwei Türmen entworfen. Auf einer hochwassersicheren Anhöhe liegt es direkt am Rhein im milden Abendlicht. Einladend. Und das kleine Wunder geschieht. Nein, die Kirche wird nicht von Besuchern überrannt. Aber zu Beginn des zweiten Konzerts, das diesen Spielort einweiht, ist das Mittelschiff ansehnlich gefüllt. Viele Gesichter erkennt man vom Vorabend wieder. Und die Freude der Festivalleiterin und -gründerin, Violina Petrychenko, ist groß. Denn pünktlich zum Konzert ist das Ehepaar aus Wilhelmshaven eingetroffen, das sicher zu ihren größten Anhängern gehört. Und nun natürlich einen Ehrenplatz in der ersten Reihe bekommt.

Der Anblick des Altarraums irritiert. Denn dort ist neben einem Notenpult ein Klavier aufgebaut. Ein Klavier für einen Liederabend? Nun, vielleicht im heimischen Wohnzimmer, aber bei einem Festival ist das doch eher ungewöhnlich. Aber man soll bekanntlich über ein Konzert nicht urteilen, ehe man die Akustik des Spielortes nicht kennt.

Petrychenko hat vorerst ohnehin andere Probleme. Nach eigener Einschätzung ist, wie sie zur Begrüßung sagt, das Publikum jeweils zur Hälfte von ukrainisch und deutsch sprechenden Besuchern besetzt. Im Vorfeld hat sie sich die Mühe gemacht, sämtliche Liedtexte ins Deutsche zu übertragen. Jetzt entscheidet sie sich spontan, von der ursprünglichen Idee abzulassen, sie vorzulesen und beschränkt sich auf kurze Inhaltsangaben. Es ist die richtige Entscheidung. Der Zeitplan bleibt im Rahmen. Und schließlich ist die eigentliche Hauptattraktion des Konzerts die Sängerin.

Lilia Nikitchuk ist im ukrainischen Lutsk geboren. Die Musikschule schloss sie als Geigerin ab, wurde an der Pädagogischen Hochschule Musiklehrerin. In Lemberg studierte sie Gesang. Heute ist sie als Mezzosopranistin Ensemble-Mitglied der Oper in Lemberg und gehört zu den besten Sängerinnen der Ukraine. In Petrychenko findet sie die denkbar beste Klavierbegleitung, die mit dem Haushaltsgerät wunderbare Klänge erzeugt, die voll und ganz für einen vollständigen Musikgenuss ausreichen. Nikitchuk eröffnet mit drei recht kurzen Liedern von Kyrylo Stetsenko: Abendlied, Ich stand da und lauschte dem Frühling und Ich schaue zu den hellen Sternen. Unmittelbar daran schließt sich das Lied Die Seele ist ein zartes Maiglöckchen von Gregory Alchevsky an. Für Nikitchuk ein leichtes Spiel im doppelten Sinne, entspringen die Lieder doch der romantischen Tradition und besingen entsprechende Inhalte.

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Mit den folgenden Stücken nimmt das Gewicht deutlich zu. Yuliy Meitus hat im vergangenen Jahrhundert eine Ballade komponiert, die an Aktualität kaum mehr zu übertreffen ist. Eine Frau wird von ihrem Verlobten verlassen, weil die äußeren Umstände es erfordern. Als er endlich zu ihr zurückkehrt, erkennt sie ihn nicht. Nikitchuk trägt das in düster bis dramatischen Klängen vor. Mit der Komposition von Eytan Pessen wird es tatsächlich aktuell. Der 1961 in Israel geborene Pianist und Gesangslehrer hat den Text Meine Gedanken von Taras Schewtschenko im vergangenen Jahr vertont. „Meine Gedanken, wo kann ich euch jetzt finden? Geht in die Ukraine, meine Kinder! In unsere Ukraine, unter die Armen, die Waisen, und ich werde hier sterben“ trägt die Sängerin sinngemäß auf Ukrainisch vor, und der Tonfall erinnert paradox an die berühmte traurige slawische Seele.

Solche Schwermut lässt sich steigern. Aus dem Zyklus Stille Lieder von Valentin Silvestrov folgt der Text Welt, leb wohl aus dem Traum von Schewtschenko. „Leb wohl, Welt, leb wohl, Erde, feindlicher Ort. Meine Qualen, meine Wut werden in Wolken versteckt. Und du, meine Ukraine, unglückliche Witwe, ich werde zu dir fliegen von den Wolken, um zu sprechen“ singt Nikitchuk so getragen wie glasklar. Da fließt in der Kirche so manche Träne bei den ukrainischen Gästen. Fünf weitere Lieder auf Verse von Ivan Franko folgen. Und wo das Piano in der Stimme überwiegt, bedarf es doch des Gegengewichts. Konstantyn Dankevich hat die Oper Bogdan Chmelnytsky 1951 um den gleichnamigen Freiheitskämpfer komponiert, in der die Witwe Barbara in ihrer Arie das Volk zum Kampf für die gute Sache aufruft. Hier kann Nikitchuk gleich in dreifacher Weise überzeugen. Die Wehmut weicht dem Kampfgeist. Die Sängerin verfällt nicht in dramatische Divengestik, sondern bleibt mit gestreckten Armen „stark“. Und ihre Stimme füllt befreit die Kirche. Konnten schon die vorangegangenen Auftritte überzeugen, kann sie jetzt das bislang Gezeigte überflügeln. In Opernkreisen pflegt man so etwas mit einem „Brava!“-Ruf zu feiern.

Mit dem Volkslied über Ringelblumen gibt es eine eher populärmusikalische Zugabe, nachdem das Publikum Pianistin und Sängerin frenetisch im Stehen gefeiert hat. Für das dritte Konzert des Festivals, das am Sonntag wiederum im Pfarrsaal der Kirche stattfindet, verspricht Petrychenko eine „magische Atmosphäre“. Nach den ersten beiden Tagen glaubt man ihr das unbesehen.

Michael S. Zerban