O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Sinnentleert, aber eindrucksvoll

URSONATE
(Kurt Schwitters)

Besuch am
27. Mai 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Erholungshaus, Leverkusen

Nachdem in den vergangenen Jahren die Kulturförderung des Unternehmens Bayer zunehmend an Profil verlor, gar schon Gerüchte über deren fraglichen Fortbestand die Runde machten, entschied man sich im vergangenen Jahr zu einem „Befreiungsschlag“ beim Konzern. Erstmalig – pandemiebedingt in kleiner Auflage – fand das Start-Festival an den Unternehmensstandorten Leverkusen, Wuppertal, Berlin und Bitterfeld statt. Drei Säulen umfasst das neue Festival, das nunmehr zeitlich begrenzt von April bis Juni stattfindet: Weltbekannte Orchester, junge Künstler und außergewöhnliche Veranstaltungen sollen dem Festival Profilschärfe und erhöhte Attraktivität verleihen. Dass es gleich zu Beginn des Neustarts gewaltig ruckelt, hat sicher nicht der Festivalmanager Christoph Böhmke zu verantworten. Der ging in die Vollen. Mit Fatma Said, einer jungen Opernsängerin, um die sich derzeit alle reißen, konnte er einen zugkräftigen Namen gewinnen. In Wuppertal hätten vor vier Jahren das City of Birmingham Symphony Orchestra und das Budapest Festival Orchestra für eine übervolle Historische Stadthalle gesorgt. Und die Aufführung der Ursonate von Kurt Schwitters im Erholungshaus Leverkusen hätte eigentlich sämtliche Musikkenner des Umfelds in Scharen anziehen müssen. Aber das Publikum, so zeigt es sich bundesweit, ist entwöhnt. Ob Theater, Tanz, Konzert oder Oper: Von einzelnen Ausnahmen abgesehen, bleibt das große Publikum den Veranstaltungen fern. Es ist sehr zu hoffen, dass die privatwirtschaftlichen Kulturförderungen, so sehr man über ihre Berechtigung streiten mag, mehr Durchhaltewillen zeigen als die öffentlichen Kulturförderer. Es ist ein offenes Geheimnis, dass letztere mit den nächsten Haushalten das öffentliche Kulturleben in der Bundesrepublik massiv einschränken werden. Dann aber wären solch großartige Aufführungen, wie sie heute im Erholungshaus in Leverkusen stattfindet, nicht mehr denkbar.

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Kurt Schwitters gilt als einer der einflussreichsten Künstler des 20. Jahrhunderts. 1887 in Hannover geboren, arbeitete er als Maler, Dichter, Raumkünstler und Werbegrafiker. Unter dem Titel Merz entwarf er ein dadaistisches „Gesamtweltbild“. Von 1923 bis 1932 „komponierte“ Schwitters die Ursonate oder Sonate in Urlauten. Inspirieren ließ der Allround-Künstler sich vom Gedicht seines Freundes Raoul Hausmann mit dem Titel fmsbwtözäupggiv?mü aus dem Jahr 1921. Längst ist der Dadaismus eine Anekdote der Geschichte, auch wenn er das Theater bis heute beeinflusst. Dass sich jemand an eine Aufführung wagt, die schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts niemand verstanden hat, lohnt die Auseinandersetzung.

Der Saal im Erholungshaus ist komplett umgebaut. Statt der hochaufstrebenden Tribüne vor der Guckkastenbühne ist der Saal auf eine Ebene heruntergebrochen, auf der ringsherum vier flache Tribünen die Bühnenfläche umgeben. Wie schön wäre es gewesen, die Tribünen voller Zuschauer zu sehen. Aber das bleibt Illusion. Gerade mal die Tribüne vor Kopf der Bühnenfläche ist mäßig besetzt. Wenn hier 30 Gäste Platz genommen haben, ist das großzügig gezählt. Auf der Bühne gibt es einen Tisch, auf dem Kaan Bulak seine Computer aufgebaut hat. Und damit wird auch schon klar, dass eine Neuinterpretation vorgesehen ist. Daneben gibt es den Spielplatz für eine Harfe, die Luise Enzian bedienen wird.

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Die Ursonate kann man auffassen als Persiflage auf die Form einer klassischen Sonate. Schwitters wollte mit dieser „Anti-Sonate“ den „vorherrschenden bildungsbürgerlichen Diskurs auf spielerische Art“ dekonstruieren. Der Unterschied zwischen damals und heute liegt darin, dass die Dadaisten über die Dekonstruktion versuchten, neue Kunst- und Ausdrucksformen zu finden, während heute viele Theater sich in ihre Blasen zurückziehen, um sie mit Gender-Ideologien aufzuladen und das Publikum umzuerziehen. Anfang des 19. Jahrhunderts verschreckte die neue Kunstrichtung weite Teile des Publikums, heute kann sich das Publikum der Ideologie durch Fernbleiben entziehen. Was für die Kultur bedrohlicher ist, führt Michael Schmid vor, wenn er beinah sinnentleerte Texte vorträgt und damit die Sprache auf die Lautmalerei reduziert. Computerklänge und Harfenmusik bleiben nahezu durchgängig unterhaltendes Beiwerk, wenn auch formidabel vorgetragen, unterstützen maximal die Phonetik. Es dauert eine ganze Weile, bis man sich als Hörer davon befreien kann, in den Texten versteckte Botschaften zu suchen oder sie verstehen zu wollen. Dann aber kann man sich ganz der großartigen Leistung des Schauspielers hingeben. Einen Text in der Muttersprache auswendig zu lernen, ist eine Frage der Übung, einen Text in einer Fremdsprache auswendig zu lernen, ist erheblich aufwändiger, aber machbar, weil man weiter in Zusammenhängen denken kann. Einen reinen Fantasietext zu memorieren und dann auch noch so brillant zu intonieren, wie es Schmid gelingt, ist ganz große Kunst.

Enzian, Bulak und Schmid gelingt es nicht nur, einen Blick in die Vergangenheit zu wagen, bei dem Lächeln durchaus erlaubt ist, sondern auch den kritischen Blick auf das moderne Theater zu schärfen. Damit hat das Festival hier eine wirklich außergewöhnliche Veranstaltung gezeigt. Neben dem Musikprogramm könnte am 10. Juni eine weitere Veranstaltung zu sehen sein, die den „gewöhnlichen“ Rahmen sprengt. Denn dann ist Nico Hümpel mit ihren Navigators aus Berlin zu Gast im Erholungshaus. Unter dem Titel Niemand stirbt in der Mitte seines Lebens wird es um Lebensrausch und Totentänze gehen.

Michael S. Zerban