Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
BUDAPEST FESTIVAL ORCHESTRA
(Ludwig van Beethoven, Gustav Mahler)
Besuch am
23. Mai 2022
(Einmalige Aufführung)
Die Kulturabteilung des Bayer-Konzerns hat es im Rahmen ihres diesjährigen Start-Festivals ermöglicht, dass in Wuppertal kurz hintereinander zwei Klangkörper gastieren, die mit zur Crème de la Crème der internationalen Orchesterlandschaft gehören. Nach dem umwerfenden Konzert des City of Birmingham Symphony Orchestra kommt nun rund eine Woche danach das Budapest Festival Orchestra – kurz: BSO – in die Historische Stadthalle und wird mit zwei bedeutenden Werken des 19. Jahrhunderts seinem erstklassigen Ruf in allen Belangen voll gerecht.
Anno 1983 war es dem Dirigenten Iván Fischer eine Herzensangelegenheit, das BSO ins Leben zu rufen. Mit den zweiten Gründungsmitglied, dem 2016 verstorbenen berühmten ungarischen Pianisten, Komponisten und Dirigenten Zoltán Kocsis, schuf er binnen kürzester Zeit ein Top-Orchester. Auf den weltweit berühmtesten Konzertpodien ist es zu Hause. Um nur wenige zu nennen: in New York die Carnegie Hall und das Lincoln Center, in London die Royal Albert Hall und das Barbican Centre wie dem Théâtre des Champs Elysées in Paris. Ständig zu Gast ist es etwa bei den Salzburger Festspielen und beim Edinburgh International Festival. Namhafte Dirigenten und Solisten lassen sich nicht zweimal bitten: darunter waren und sind Größen wie Sir Georg Solti, Kurt Sanderling, Charles Dutoit, Martha Argerich, Yuri Bashmet, Kiri Te Kanawa und und und. Trotz seines kurzen Bestehens von noch nicht einmal 40 Jahren gehört es gehört es mit Fug und Recht auf der Weltrangliste zu den Top Ten. Davon kann man sich an diesem Abend überzeugen.
Die Noten des vierten Klavierkonzerts in G-Dur, op. 58, aus der Feder von Ludwig van Beethoven liegt auf den Pulten der Musiker, die in klassischer alter Tradition der „Deutschen Aufstellung“ Platz nehmen. Diese Sitzanordnung der Streicher war bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts überall alltäglich: Die ersten und zweiten Geigen sitzen sich gegenüber, die Bratschen wie gewohnt neben den zweiten Geigen und die Celli neben den ersten Geigen. Als kleine Abweichung befinden sich wie bei den Wiener Philharmonikern die Kontrabässe nicht hinter den ersten Geigen, sondern hinter dem gesamten Orchester. Den Komponisten der Klassik und Romantik kannten die damit einhergehende unverwechselbare Akustik genau und komponierten dementsprechend. So kommen die dadurch beabsichtigten klanglichen Effekte voll zum Tragen.
Alexandre Kantorow – Foto © O-Ton
Am Flügel sitzt der 25-jährige französische Nachwuchspianist Alexandre Kantorow, Sohn des berühmten Geigers und Dirigenten Jean-Jacques Kantorow. Er entschloss sich erst nach seinem Abitur, Berufsmusiker zu werden. Am Pariser Konservatorium und der Ecole Normale de Musique de Paris in die Lehre gegangen, gewann er 2019 mit nur 22 Jahren den Grand Prix und die Goldmedaille beim renommierten Internationalen Tschaikowski-Wettbewerb in Moskau. Er ist damit der erste französische Gewinner der Sparte Klavier in der Wettbewerbsgeschichte. Seitdem geht seine Karriere steil nach oben. Mit bedeutenden Orchestern, etwa dem Philharmonia Orchestra London, der Boston Symphony oder dem Orchestre de Paris arbeitet er zusammen. Außerdem gibt er Solo-Rezitals in den Musikmetropolen Europas und Asiens sowie Liederabende mit dem Bariton Matthias Goerne unter anderem in Moskau und beim Ravinia-Festival.
Dank des sensiblen und mitatmenden Dirigats von Iván Fischer kommt Kantorows hohe Musikalität voll zur Geltung. Glasklar bringt er selbst kleinste Nuancen im Piano mustergültig zum Ausdruck, zeichnet lupenrein, schnörkellos den Notentext nach. Weich, zart-schwingend beginnt er das Allegro moderato, tritt absolut gleichberechtigt in einen Dialog mit dem Orchester, brilliert mit schwirrenden Trillern, chromatischen Läufen und gebrochenen Akkorden. Innig-flehend, singend gestaltet er das Legatothema des sich anschließenden Andante con moto. Und im sich kraftvoll-lebensfreudig entwickelnden finalen Rondo resultiert aus seiner Wechselrede mit dem von den Streichern vorgetragenem federnd-tänzerischen, außerordentlich packender fröhlicher Reigen. Hochvirtuos, sehr fantasievoll, gepaart mit etlichen lyrischen Momenten erklingen die beiden Kadenzen. Dabei ist der Orchesterklang fein nuanciert, und dynamisch exzellent auf den des Klaviers abgestimmt. Einerseits verschmelzen sie an passenden Stellen zu einer homogenen Einheit, andererseits steht das Tasteninstrument klar im Vordergrund. Mit stehenden Ovationen wird Kantorow begeistert gefeiert. Dafür bedankt er sich als Zugabe mit der traumhaft schön gespielten 1881 erschienenen Transkription Mélodie de Gluck des italienischen Komponisten Giovanni Sgambati, der von 1841 bis 1914 lebte. Das Stück widmet sich dem „Reigen seliger Geister“, einer Balletteinlage im zweiten Akt der Oper Orfeo ed Euridice von Christoph Willibald Gluck. Kurzum: Sein Wuppertal-Debüt ist ganz große Klasse. Ihm kann man aufgrund seiner großen pianistischen Könnens, seiner hohen selbstbewussten Musikalität und seiner unverblümten Werktreue eine große Zukunft wünschen.
Iván Fischer – Foto © O-Ton
Auch die erste Sinfonie in D-Dur von Gustav Mahler kommt wie aus einem Guss von der Bühne. Dafür sorgt zum einen Maestro Fischer, ein ausgewiesener Mahler-Kenner und nach wie vor Künstlerischer Direktor des BFO. Der beliebte ungarische Orchesterleiter berühmter Orchester, der auf den großen Konzertbühnen und in renommierten Opernhäusern der Welt zu Hause ist, dirigiert das großangelegte, vielschichtige Opus auswendig. Seine Anweisungen widerspiegeln klar selbst die kleinsten in der Partitur stehenden Vorschriften. Absolute Werktreue steht im Vordergrund. Zum anderen ist es das Orchester, das auf ihn detailgetreu achtet. Wie bei Beethoven brilliert es mit einer umwerfenden Homogenität. Stets sind sämtliche Orchestergruppen in sich verblüffend intonationsrein und klingen wie ein Instrument. Selbst die lautesten Passagen im Tutti werden kultiviert und durchhörbar gestaltet. Es wird agil musiziert. Klare Hauptstimmen zu sensibler Begleitung, deutliche Darlegung aller Strukturen, ein runder, sonorer Streicherklang lassen die Zuhörer in die reichhaltigen Melodien eintauchen.
Wirkungsvoll werden die vielschichtigen Orchesterfarben intoniert. Jeder musikalische Gedanke wird ganz im Mahlerschen Sinn tief ausgelotet. Ein großer musikalischer Bogen wird gespannt vom anfänglichen Erwachen der Natur über die fröhlich-beschwingte Stimmung des zweiten Satzes und anschließend durch die dauernde Wiederholung der Weise „Bruder Martin, Bruder Jakob“ heraufbeschworene melancholische Stimmung bis hin – nach wilden aufwühlend-dramatischen Auseinandersetzungen – zum hymnischen Finale. Bestimmt würde dem Komponisten diese packende Deutung gefallen, werden doch seine sämtlichen Intentionen ohne weitere, überflüssige Schnörkel verständlich vermittelt.
Das Publikum zeigt sich zu Recht hellauf begeistert über den vielen wohl nachhaltig in Erinnerung bleibenden Abend. Die standing ovations, gespickt mit einer Vielzahl an Jubelrufen und bravi, ebben ersten dann ab, als Fischer nach etlichen „Vorhängen“ zum Abschied winkt und die Musiker ihm hinter die Bühne folgen. Für die Wuppertaler Musikfreunde waren bis vor über 15 Jahren solche Meisterkonzerte an der Tagesordnung. Seitdem rechnen sie wohl nicht mehr mit solchen Ereignissen, wovon der schwach besuchte Große Saal der Historischen Stadthalle zeugt. Beim nächsten Mal könnte ruhig die Werbetrommel fleißiger gerührt werden, um sie wieder wachzurütteln.
Hartmut Sassenhausen