Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
CITY OF BIRMINGHAM SYMPHONY ORCHESTRA
(Pjotr Iljitsch Tschaikowsky, Johannes Brahms)
Besuch am
14. Mai 2022
(Einmalige Aufführung)
Bis die Konzertdirektion Wylach ihre Konzertreihe der Meisterkonzerte einstellte, gaben sich in der Historischen Stadthalle Wuppertal regelmäßig Spitzenorchester und sehr bekannte Dirigenten die Klinke in die Hand. Die gute Stube der Stadt war deswegen weltweit in aller Munde. Auch ohne große Werbung war das Haus regelmäßig ausverkauft. Danach, man kann es Pi mal Daumen an einer Hand abzählen, gab es nur noch sehr selten solche Veranstaltungen. Nun sorgt die Kulturabteilung des Unternehmens Bayer im Rahmen ihres diesjährigen Start-Festivals dafür, dass kurz hintereinander gleich zwei Orchester von Weltruf dort auftreten. Den Anfang macht das City of Birmingham Symphony Orchestra unter seiner Chefin Mirga Gražinytė-Tyla. So ist es kein Wunder, dass die Musikliebhaber in Scharen auf den Johannisberg strömen und der Große Saal ausgezeichnet besucht ist.
Wie derzeit überall en vogue, wird anfangs der von Russland angegriffenen Ukraine musikalisch gedacht. Das Volkslied Ente schwimmt wird anrührend vorgetragen, indem die Musiker stehend die Weise ergreifend summen, die Dirigentin mit ihrem schönen Sopran den Text innig singt und Pianistin Gabriela Montero für ein stimmungsvolles Zwischenspiel sorgt. Danach geht es sofort weiter mit Pjotr Iljitsch Tschaikowskis erstem Konzert für Klavier und Orchester in b-Moll, op. 23. Ungemein wuchtig kommt das Werk daher. Ein großer, sonorer Gesamtklang korrespondiert mit dem fest zupackenden Soloinstrument. Mit dieser Haltung kommt die Absicht des Komponisten voll zum Tragen, die er folgendermaßen formulierte: „Das Verhältnis von Klavier und Orchester ist ein Kampf zweier ebenbürtiger Kräfte.“ Es gehe um ein „gewaltiges, an Farbenreichtum so unerschöpfliches Orchester, mit dem sich der kleine, unscheinbare, doch geistesstarke Gegner auseinandersetzt und auch siegt, wenn der Pianist begabt ist. In diesem Ringen steckt viel Poesie und eine Unmenge verführerischer Kombinationsmöglichkeiten.“ Hier demonstriert das Orchester selbst in sehr lauten Abschnitten seine große Klasse: absolut homogene Orchestergruppen, stets ausbalanciert und durchhörbar. Vortrefflich alternieren kraftvolle und träumerische Momente. Nur hätte an wenigen Stellen etwas nuancierter gefeilt werden können, um etwa im zweiten Satz die lyrischen Gedanken noch beseelter zu vermitteln. Dabei interagiert Montero hochvirtuos nach anfänglichen kleinen Ungenauigkeiten vortrefflich mit dem Orchester, setzt kraftvolle Kontraste oder integriert sich mustergültig in das Klangbild.
Gabriela Montero – Foto © Anders Brogaard
Mit ihrer Zugabe wird die aus Venezuela stammende Pianistin ihrem ausgezeichneten Ruf als exzellente Improvisationskünstlerin voll gerecht. Sie fragt das Publikum nach Melodien- und Themen. Angesichts des sommerlichen Klimas draußen wird der Wunsch nach Summertime laut. Also legt sie mit dem Wiegenlied, das George Gershwin für seine Oper Porgy and Bess schrieb, los. Sie hält sich aber nicht lange mit der Melodie auf, verfremdet sie sofort und variiert die Motive geschickt und kunstfertig perfekt nach Art einer barocken Passacaglia.
Ganz anders als Tschaikowski kommt die dritte Sinfonie in F-Dur, op. 90, von Johannes Brahms von der Bühne. Wuchtige Töne weichen viel schlankeren, hochsensiblen, feinen, emotionalen Klängen. Jede kleine Phrasierung wird tief ausgelotet herausgearbeitet, ohne die musikalischen Spannungsbögen zu vernachlässigen. Von der ersten bis zur letzten Note erklingt das Werk wie aus einem Guss. Hier wie auch beim Klavierkonzert präsent sich Gražinytė-Tyla als eine großartige Orchesterleiterin. Ihr gestenreiches Dirigat ist stets exakt, vorausschauend, umsichtig, jederzeit verständlich und vermittelt äußerst präzise Dynamiken, die die Sinfoniker kongenial umsetzen. Die aus Litauen stammende Dirigentin sorgte für großes Aufsehen, als sie 2016 mit nur 29 Jahren Chefdirigentin des Orchesters wurde. Sie steht damit in der Nachfolge der Pultgrößen Simon Rattle, Sakari Oramo und Andris Nelsonst. An diesem Abend wird deutlich, dass die Entscheidung des City of Birmingham Symphony Orchestra nicht falsch war. Denn ihr Umgang mit dem Klangkörper von Weltruf hinsichtlich Motivation, aber auch fest entschlossenen, nachvollziehbar-durchdachten Anweisungen zeugen von großer Klasse.
Stehende Ovationen sind zu Recht das Resultat eines gehaltvollen Abends, der in Wuppertal wohl nachhaltig in Erinnerung bleiben wird. Das Konzert hat der Westdeutsche Rundfunk aufgezeichnet. Am 23. Mai tritt um 20 Uhr in der Historischen Stadthalle Wuppertal das Budapest Festival Orchestra auf. Unter der Leitung von Iván Fischer stehen Ludwig van Beethovens 4. Klavierkonzert und Gustav Mahlers 1. Sinfonie auf dem Programm. Mit dabei ist der junge Pianist Alexandre Kantorow, Sohn des berühmten Geigers und Dirigenten Jean-Jacques Kantorow. Vor drei Jahren gewann er als erster Franzose den ersten Preis und die Goldmedaille in der Klaviersparte in der Geschichte des Tschaikowski-Wettbewerbs.
Hartmut Sassenhausen