O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Ursula Kaufmann

Aktuelle Aufführungen

Entzücken des Rückens

WHIRLING LADDER | UPRIGHT
(Chun Zhang)

Besuch am
12. Mai 2023
(Uraufführung)

 

Tanz NRW in der Fabrik Heeder, Krefeld

Tanz NRW ist ein alle zwei Jahre stattfindendes Festival für den zeitgenössischen Tanz. Die Idee ist so einfach wie gut. Bereits bekannte Choreografien werden in einem Verbund von neun Städten erneut gezeigt. So erfahren hervorragende Stücke eine breitere Öffentlichkeit, und die Fläche erfährt mehr vom zeitgenössischen Tanz. Außerdem bekommen Städte in der „Provinz“ so auch Gelegenheit, ihre Organisationsformen von Veranstaltungen zu überprüfen und zu überdenken. Die Fabrik Heeder in Krefeld ist eine ehemalige Tapetenfabrik, die längst zur Spielstätte umgebaut ist. Eigentlich möchte man hier nicht von Provinz sprechen. Hier findet das Move-Festival, ein eigenes Festival für den zeitgenössischen Tanz statt. Außerdem sind die Gebäude Außenspielstätte des Theaters Krefeld Mönchengladbach. Erstaunlich, dass sich hier vor der Kasse eine Schlange quer durch das Foyer bildet. Auch hier, wie so oft an kleineren Spielstätten, eine äußerst engagierte Dame hinter dem Schalter, die sich bemüht, in aller Ruhe und Gründlichkeit jeden individuellen Wunsch der Kunden zu bedienen, ohne auch nur einen Moment ihre Freundlichkeit zu verlieren. Die Dame, die offenbar für die Abendspielleitung zuständig ist, hat allerdings keine Zeit, der Kassiererin zu helfen, zum Beispiel, indem sie schon mal parallel die bereits bezahlten Karten ausgibt. Oder das Kontingent der Pressekarten übernimmt. Die Presse ist erfreulicherweise zahlreich erschienen. Die Aufgabe der Abendspielleiterin scheint eher in der Hofaufsicht zu liegen. Jedenfalls hält sie tapfer das betonierte Geländer der Außentreppe mit dem Rücken fest, damit es nicht umkippt und hat das Geschehen auf dem Hof fest im Blick. Und sie hat ja Recht. Ihre Stellenbeschreibung als städtische Angestellte sieht nichts anderes vor, für spontane Eingriffe in den Betriebsablauf wird sie nicht bezahlt, und die Aufführung wird sicher nicht beginnen, ehe die letzte Karte verkauft ist. Der Weitblick zahlt sich aus. Der Kassiererin gelingt es, dem Ansturm Herr zu werden. Ein paar Minuten Verspätung haben da noch keinem geschadet.

Das große Interesse an diesem Abend ist gerechtfertigt. Denn schließlich wird nicht nur eine der drei Uraufführungen des Festivals gezeigt, sondern mit Yibu Dance ist auch ein besonders vielversprechendes Choreografenpaar am Start. Seit 2019 gibt es die Compagnie von Chun Zhang und Kai Strothmann, die bereits am selben Spielort und in Arnsberg mit interessanten Stücken beeindruckte. Die Vorankündigung von Whirling Ladder | Upright – was man mit Drehleiter | Pfosten übersetzen kann – ist erfrischend einfach wie animierend. Es geht um die Entwicklung der Wirbelsäule des Menschen in den ersten zwei Lebensjahren. Was sich allerdings hinter dem Thema verbirgt, ist dann doch eine Überraschung.

Dem vorangestellt sei die chinesische Mythologie, in der die Geschichte von der Schöpfungsgöttin erzählt wird. Nuwa ging den gelben Fluss entlang und entdeckte plötzlich ihr Spiegelbild im Wasser. Sie beschloss, mit dem Schlamm aus dem Flussbett Figuren nach ihrer eigenen Gestalt zu formen. Nuwa pustete die Figuren an, und so wurde ihnen Leben eingehaucht. Die Figuren wurden zu kleinen, intelligenten und geschickten Lebewesen, die gehen und sprechen können. Nuwa nannte sie Mensch.

Fünf solcher Menschen – Ludovica Pinna, Francesca Pavesio, Enora Gemin, Nene Okada und Kyoko Oku – finden sich auf der Bühne in der Fabrik Heeder in absoluter Dunkelheit wieder, nur mit einem Rock undefinierbarer Farbe und von Anne Bentgens entworfen bekleidet, im geflochtenen Haar ein weißer Streifen als Verlängerung des Rückgrats. Sie liegen dicht gedrängt auf wenigen Quadratmetern, die von Tobias Heide mit vier Scheinwerfern ausgeleuchtet werden. Spätere Lichtwechsel geschehen fast unmerklich.

Bei aller künstlerischer Freiheit auf der Bühne gibt es doch handwerkliche Regeln. Dazu gehört beispielsweise, einen Darsteller nicht mit dem Rücken zum Publikum sprechen oder singen zu lassen. Solche Regeln haben sich bewährt, und jeder Darsteller wird sich bemühen, dem Publikum erst gar nicht den Rücken zu zeigen, wenn der Regisseur oder auch der Choreograf nicht ausdrücklich darauf bestehen. Zhang stellt die Regeln auf den Kopf. Ihre Tänzerinnen werden eine knappe Stunde lang den Zuschauern ausdrücklich nur den Rücken zeigen. Ein Kunstgriff, der zur Überraschung des Publikums funktioniert. Da knien die Damen zunächst, den Oberkörper fest auf den Boden gepresst. Erst allmählich kommt zur Musik von Kai Strathmann, die aus den Lautsprechern erklingt, Bewegung in die Körper. Naturgeräusche mischen sich mit rhythmischen Klängen. Beständig bleiben die Versuche, die Körper aufzurichten, wobei erstaunlich ist, wie lange man vermeiden kann, in der Rückenansicht seinen Kopf zu verbergen.

In dieser Stunde passiert kaum anderes als die Versuche, die fünf Körper in den Stand zu bringen. Die Bewegungsabläufe sind laut Zhang abgeleitet aus der somatischen Entwicklungsforschung. Dabei gelingt es der Choreografin, die reine Physiologie in Poesie zu verwandeln. Als das Licht erlischt, erwacht das Publikum aus einer Art Trance, um die Leistungen des gesamten Teams begeistert zu feiern. So undurchsichtig die Programmauswahl bei Tanz NRW wirkt, so berechtigt ist die Entscheidung, die Uraufführung von Yibu Dance an diesem Abend zu fördern.

Michael S. Zerban