O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © O-Ton

Aktuelle Aufführungen

Neues wagen

EIN ABEND DER KURZEN STÜCKE
(Chun Zhang, Kai Strathmann)

Besuch am
11. November 2022
(Premiere am 10. November 2022)

 

Sauerland-Theater, Arnsberg

Von der Schlossruine aus, dem höchsten Punkt der Altstadt, hat man selbst in den Abendstunden noch einen wunderbaren Ausblick auf die Stadt, die sich auf die umliegenden Täler und Hügel ausbreitet. Da blinken und blitzen die Lichter von Arnsberg wie in einer Zauberwelt, die sich vom Rest der Menschheit abschirmt. Sehr entspannt führt der Spaziergang hinunter in die Altstadt, über den Alten Markt vorbei an der Auferstehungskirche, ehe es links zum Ufer der Ruhr hinuntergeht. Auf dieser Seite des Ufers gibt es einen Spielplatz, auf der anderen Seite ein Theater. Also heißt der Weg über die Ruhr Spielplatzbrücke.

1968 wurde der Funktionsbau mit dem stolzen Namen Sauerland-Theater fertiggestellt. Er verfügt über fast 600 Sitzplätze und nach seiner Sanierung 2019 über eine moderne Bühnentechnik, die nahezu alle Sparten bedienen kann. Damit verfügt das Theater eigentlich über ein unglaubliches Potenzial und ist doch eines der immer noch zunehmenden Bespieltheater, die den Saal am liebsten mit leichter Kost füllen. In diesem Jahr ist hier noch die Schlagersängerin Gitte Haenning zu Gast, es gibt eine „Comedy Mixed Show“ mit dem Titel Frauenkracher, irische Stepptänzer schauen auf ihrer Weihnachtstournee vorbei und zum Jahreswechsel ist das Ensemble Spreegold zu Gast. Man wird vermutlich in Arnsberg dasselbe Argument hören, das man auch in anderen Bespieltheatern immer wieder zu hören bekommt. „Wir müssen einkaufen, was ins Budget passt und die Säle füllt, damit das Theater nicht ganz verschwindet.“ Für drei Abende durchbricht Theaterleiterin Kirsten Minkel jetzt die traurige Routine. Schon länger hegt sie den Wunsch, ihr Programm um zeitgenössischen Tanz zu erweitern. Als die junge Compagnie Yibu-Dance ihren Auftritt anbietet, greift sie zu.

Chun Zhang – Foto © O-Ton

Yibu-Dance, das sind die beiden Choreografen Chun Zhang und Kai Strathmann, die an der Folkwang-Universität Essen studiert und sich danach selbstständig gemacht haben. Das war 2019. Was ungeheuer vielversprechend begann, muss infolge der Pandemie-Bedingungen und ihrer Folgen nun „Schritt für Schritt“ – das heißt Yibu auf Chinesisch – aufgebaut werden. Eigentlich waren die beiden schon für das Hauptprogramm der Tanzmesse 2020 mit ihrer Choreografie Ein Abend der kurzen Stücke eingeladen. Daraus wurde ein kurzer Internet-Auftritt. Jetzt haben sie den Zug neu aufs Gleis gesetzt – und feiern die Uraufführung des vollständigen Stücks im Sauerland-Theater.

Man darf den beiden durchaus einen Hang zur Perfektion nachsagen, der sich mit dem Wunsch verbindet, eine neue Bewegungssprache zu finden: die Symbiose europäischer und asiatischer Tanzkultur. Dazu ließen sie sich für das neue Stück von den 64 Hexagrammen des 7000 Jahre alten Buchs I Ging inspirieren. Auch wenn daraus ein dreiteiliges Werk wurde, durchziehen doch Konstanten den Abend. Dazu zählt das Lichtdesign von Tobias Heide. Der entscheidet sich für feine, kaum wahrnehmbare Nuancen von Weißlicht, die den Tanz wie Samt umsäumen. Selten hat man mit dermaßen geringen Mitteln eine solche Wirkung gesehen. Das ist genauso großartig wie die Musik des Pianisten und Komponisten Nils Frahm, der in Berlin lebt. Strathmann hat sie für die Choreografien angepasst, und so entsteht in allen drei Teilen eine magische Verbindung zwischen Tanz und Musik. Bei den Kostümen von Anne Bentgen darf man diskutieren. Im ersten Teil stark körperbetont, muss man die Farbe nicht mögen, auch wenn sie gut zum Licht passt. Im dritten Teil sorgen rote Hosen für mehr Kraft, sind aber nicht wirklich vorteilhaft geschnitten. Und im mittleren Teil, dem Höhepunkt des Abends, muss es natürlich ein schwarzes Kostüm sein, aber auch hier fehlt der letzte Strich an Eleganz.

Francesca Pavesio und Ludovica Pinna – Foto © O-Ton

Ludovica Pinna und Francesca Pavesio eröffnen den Abend auf die Sekunde pünktlich. Sie entwerfen ein expressives Bild der Abhängigkeiten in einer Beziehung. „Wenn sie von Herzen kommen, entstehen Nähe und Intimität. Wenn sie aus dem Gehirn kommen, schaffen sie Raum und Ordnung. Wir alle tanzen so zwischen Himmel und Erde“, ist im Abendzettel sehr zutreffend zu lesen. Anschließend beginnt das Wagnis und die große Herausforderung des Abends. Chun Zhang selbst zeigt ihren Tanz als Silhouette. Mit dem Schattenriss ist es im Tanz wie in der Fotografie. Die meisten Motive sind langweilig und wirken eher wie „Fehlschüsse“. Wenn es allerdings gelingt, dem Bild ein Geheimnis zu verleihen, wird es zum Meisterstück. Zhang, die sich vorübergehend aus der Silhouette als Schemen löst, gelingt genau dieser Zauber. Im dritten, „befreienden“, Teil tritt Mariane Verbecq zu Pinna und Pavesio hinzu. Zhang erklärt im Abendzettel die theoretische Entwicklung der Choreografie. Man muss das nicht verstehen. Es reicht vollkommen aus, das lebendige und immer wieder gerade in Details überraschende Bewegungsmaterial zu genießen.

Dass der Applaus vergleichsweise spärlich ausfällt, liegt am erwarteten Effekt. Am ersten Abend waren es 16 Besucher, am zweiten Abend sind gerade mal 25 Besucher dem Experiment Minkels gefolgt. Was in entsprechenden Studios des zeitgenössischen Tanzes schon fast raumfüllend wirkt, verliert sich in dem Theater kläglich. Da kann man der Theaterleiterin nur wünschen, dass sie nach der Ermutigung einer fabelhaften Aufführung den Durchhaltewillen besitzt und die Sauerländer weiter für den zeitgenössischen Tanz begeistern will. Auf dem Weg zum großzügigen Parkplatz vor dem Theater möchte man einfach glauben, dass in einem Theater, das den Namen einer ganzen Region trägt, doch mehr möglich ist als Comedy, abgehalfterte Sänger und Boulevard.

Michael S. Zerban