O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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ACCANTO
(Diverse Komponisten)

Besuch am
2. Juli 2022
(Uraufführung)

 

Rufffactory, Köln

Die Rufffactory ist eine alte Fabrikhalle im Kölner Stadtteil Ehrenfeld, die als Arbeitsraum für Kunst und Kultur annonciert wird. Signifikantestes Merkmal dafür, dass sich der Backsteinbau als Spielstätte eignet, ist wohl das Vorhandensein von Strom im großen Saal. Hier veranstaltet das Ensemble I Transiti den dritten und vierten Teil seiner Konzertreihe Communication, die es in einem Küchenstudio mit Spiel (?)(!) begonnen und in einer Kirche mit Tsugu fortgesetzt hat. I Transiti sind die Pianistin Vittoria Quartararo, der Klarinettist Blake Weston und Posaunist Yoshiki Matsuura. Ihr Anspruch: Zeitgenössische Musik als Musiktheater aufzuführen, um so zu neuen Konzertformaten und Publika zu finden.

Waren die ersten beiden Aufführungen schon ziemlich eindrucksvoll, haben die drei Musiker für den dritten Teil unter dem Titel Accanto noch einmal eine ordentliche Schippe draufgelegt, sowohl was den musikalischen als auch was den theatralen Teil angeht. Die Videoinstallation Another Season von Anna Lytton im Vorraum des Saals bleibt dabei weitgehend unbeachtet, was gar nicht so sehr an der Darstellung der Bleistiftstriche liegen muss, sondern an Attraktivität nachhaltig verliert, weil hier weder Stühle zum Verweilen einladen noch irgendwelche Hinweise wie etwa Schrifttafeln auffordern, sich mit diesem Teil des Abends auseinanderzusetzen. Accanto bedeutet im Italienischen „nebenan“. Dabei sieht Quartararo, die dieses Mal für das Konzept zuständig ist, in dem Begriff eher einen philosophischen denn einen örtlichen Ansatz. „Es gibt nicht nur die von uns Menschen definierte Struktur einer Weltordnung – es gibt Systeme, die auf ganz andere Art und Weise Kommunikation und Ordnung herstellen“, sagt die Musikerin. Und so hat sie das Tanzkollektiv Dencuentro eingeladen, um gemeinsam den Gedanken „einer übergeordneten Verzahnung menschlicher und nicht-menschlicher Systeme“ als roten Faden für die Aufführung zu knüpfen.

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Dazu hat Quartararo das Team deutlich verstärkt. Weiterhin dabei ist Felix Grützner, der die Musiker in Regie-Fragen berät. Constanza Ruiz Campusano aus dem Tanzkollektiv Dencuentro hat ein Auge auf die künstlerischen Bewegungsabläufe in der Aufführung. Und Jan Patrick Brandt hat ein wirklich starkes Bühnenbild entworfen, dass sich nicht nur hervorragend in die Umgebung einfügt, sondern überhaupt erst die Aufführung eines der Stücke dieses Abends ermöglicht und darüber hinaus für eine perspektivische Verfremdung des Konzertgeschehens sorgt. Dabei wird die Sitzordnung aufgehoben, und die Besucher werden aufgefordert, sich frei im Raum zu bewegen. Das ist nicht neu, und meistens endet der Versuch darin, dass doch alle Besucher einen Platz finden, an dem sie festkleben. Hier allerdings wird das Geschehen dafür sorgen, dass das Publikum gern und häufig die Position wechselt.

Drei „Felsen“ hat Brandt aus Holzgerüsten gebaut, die mit Stoff umlegt sind. Sie sind um einen Flügel herum aufgestellt. Und das ist notwendig, um das erste Stück aufzuführen, das gleich mal als Uraufführung daherkommt. Von I Transiti in Auftrag gegeben, hat Tamara Miller Remoto für drei Musiker und präpariertes Klavier komponiert. Remoto bedeutet „Fernbedienung“, und das ist in diesem Fall Programm. Der Flügel ist von den Felsen aus mit Schnüren verbunden, die die drei Musiker aus der Deckung der Hohlräume heraus bedienen. Musikalisch ist das weniger spektakulär, aber optisch ist es hochinteressant, und schon bald drängt sich das Publikum um den Flügel, um möglichst aus der Nähe zu erleben, wie die Hände sich aus den Verstecken bewegen, um die Schnüre zu ziehen, zu dehnen oder als verlängerte Saiten zu bedienen. Ein großartiger Einstand, nach dem eigentlich nichts mehr schiefgehen kann. Das Publikum ist gefesselt und wartet auf womöglich noch größere Überraschungen.

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Benjamin Marschner hat Gedichte unter dem Titel Die kleine Trance von Manos Tsangaris eingesprochen, die sich an Remoto anschließen. Ein gelungener Effekt. Thomas Koch setzt das als Klangkulisse im Raum auch prima um, die Lichtsignale, die die Stimme begleiten, bleiben aber eher unbemerkt. Inzwischen ist der Flügel wieder für „normale“ Spielweisen aufbereitet, so dass der Abend von der Gegenwart in die Vergangenheit fallen kann. 1981 stellte Frederik Rzewski seine Three Pieces für Sopransaxofon, Posaune und Klavier vor. Weston ersetzt das Saxofon kurzerhand durch seine Klarinette, und schon sitzt das Publikum gebannt auf seinen Plätzen, um sich teils mit geschlossenen Augen auf die Werke einzulassen. Ob es das Stück Szenen, Standbilder für vier Instrumente von Michael Reudenbach aus dem Jahr 1995 wirklich braucht, kann man diskutieren. Zum Vortrag gesellt sich Yiyang Zhao mit seinem Cello hinzu. Im dramaturgischen Verlauf sorgt es jedenfalls dafür, dass die Fallhöhe zur zweiten Uraufführung an diesem Abend stimmt. Catalina Rueda hat eigens für diesen Abend Monólogo roto, also einen abgebrochenen Monolog, für Ensemble und Tänzerin komponiert. Dazu tritt Amanda Romero Canepa auf. Sie trägt pinkfarbene Boxershorts zu einem schwarzen, mit goldfarbenem Schmuck verzierten Büstenhalter und weißen Turnschuhen. Über ihren Körper hat sie eine transparente Folie gestreift. Expressiv bewegt sie sich zwischen den Musikern, während Quartararo häufiger zu Trommelschlegeln greift, um ihr Klavier zu bearbeiten. Schließlich ergänzt Romero ihren Tanz um Gesang, der unverständlich bleibt, um endlich mit einem trockenen Brötchen in der Hand zu verharren. Ein paar Worte der Erklärung, was sie da singt, hätten einen wunderbaren Abend sicher abrunden können.

Das Publikum, das überraschend zahlreich erschienen ist, ist schier begeistert und feiert die Akteure von Herzen. Zu Recht. I Transiti steigert sich von Mal zu Mal. Da bleibt am Ende des Abends nur die Hoffnung, am 23. Juli noch irgendwo in der Gegend einen Parkplatz zu bekommen, um sich auch den letzten Teil der Konzertreihe Communication mit dem Titel Trip-tique noch anschauen zu können.

Michael S. Zerban