O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © O-Ton

Aktuelle Aufführungen

Abseits vom Hurz

TSUGU
(Diverse Komponisten)

Besuch am
25. Mai 2022
(Einmalige Aufführung)

 

I Transiti in St. Maria in Lyskirchen, Köln

Seit 1991 haben sich die Kritiker neuer oder zeitgenössischer Musik auf einen Bewertungsmaßstab geeinigt. Er heißt Hurz und beruht auf einem Fernsehsketch, den Hape Kerkeling und Achim Hagemann im Ersten zeigten. Darin mimten die beiden zwei polnische Musiker, die einen angeblichen Ausschnitt aus einer Oper eines fiktiven zeitgenössischen klassischen Komponisten aufführten. Der Auftritt verwendet immer wieder das Wort Hurz, um die Musik ad absurdum zu führen. Anschließend wurden die Zuschauer damals aufgefordert, ernsthaft über die neue Musik zu diskutieren. Bis heute gibt es Hurz-Alarm, wenn irgendwo ein Plakat mit der Ankündigung neuer Musik auftaucht. Die einen gehen erst gar nicht zu solchen Veranstaltungen, die anderen, die es vielleicht berufsbedingt müssen, hüten sich davor, in die Hurz-Falle zu tappen.

Das kürzlich gegründete Trio I Transiti will dem Publikum Werke neuer Musik vorstellen, die über jeden Hurz-Verdacht erhaben sind. Und die drei Musiker haben die Ziele noch höher gesteckt. Sie möchten die neue Musik in einem theatralen Rahmen zelebrieren, der den Zuschauern vielleicht den Zugang zu ungewöhnlichen Klängen erleichtern kann. Das erste Stück dieser Art haben sie vor ziemlich genau einem Monat in einem Küchenstudio aufgeführt, und dem Publikum hat es außerordentlich gut gefallen. Nach Spiel (?)(!) folgt die Fortsetzung jetzt in St. Maria in Lyskirchen am Kölner Rheinufer, einer romanischen Kirche gleich gegenüber dem Schokoladenmuseum. Einige Stufen führen zum Altarraum hoch, die mit einem Seil abgesperrt sind. Das Mittelschiff ist leer, lediglich ein seltsames Dekor-Element mit Digitalis, also dem giftigen Fingerhut und einer ewigen Kerze darüber, schmückt die Mitte des Raums, die heute Abend den Bühnenraum hergibt. Ein paar halbkreisförmig angeordnete Klappstühle im hinteren Teil bieten dem Publikum Platz. Die Bühne selbst kommt mit wenigen Requisiten aus, ein Tisch mit Flasche und Glas, zwei Notenständer und auf der rechten Seite ein Toy-Piano mit Hocker und Buchhalter.

Foto © O-Ton

Und selbst diese Gegenstände werden vorerst nicht benötigt, wenn Klarinettist Blake Weston und Posaunist Yoshiki Matsuura antreten, um Retrouvailles für zwei Perkussionisten von Georges Aperghis aus dem Jahr 2013 aufzuführen. Ein herrliches, rund zehnminütiges Stück, das ideal zum Oberbegriff der kleinen Konzertreihe passt. Kommunikation steht über dem Musiktheater, und die interpretiert Aperghis auf ganz eigene Weise. Zwei offensichtlich einander gut Bekannte begegnen sich und umarmen sich, um auf dem Rücken des jeweils anderen mit den Händen ihren Rhythmus zu trommeln. Dazu gesellt sich eine Sprache, die ganz sicher niemand außer den beiden versteht. Aber die scheinen ihren Spaß zu haben, tauschen Neuigkeiten aus, darunter nicht nur gute Nachrichten. Klar, dass einem da der Mund trocken wird. Also geht es an den Tisch, um dort munter zu zechen und ihre ganz eigene Form der Kommunikation fortzusetzen. Ein Paradestück für den Wunsch der neuen Musik, neue Wege zu finden. Mit minimalen Mitteln werden hier Emotionen hörbar gemacht, ehe die „richtige“ Geschichte beginnt.

Golden und der Wind ist die Erzählung einer Legende der Tsalagi, im hiesigen Sprachraum besser bekannt als Cherokee und Ureinwohner Nordamerikas. Pianistin Vittoria Quartararo kommt dazu mit einem überdimensionierten Märchenbuch auf die Bühne und nimmt ihren Platz am Toy-Piano, also einem Spielzeugklavier in Form einer Flügelminiatur, ein, von wo aus sie immer wieder Absätze der Geschichte vorträgt. Auch sie in einem Kostüm, das die drei selbst entworfen haben: raffiniert, ohne allzu viel Glamour auszustrahlen. Den verleiht Quartararo dem Abend nun mit der Suite for Toy Piano von John Cage. 1948 entstanden, gehört das fünfsätzige Werk längst zu den Klassikern der ohnehin sehr überschaubaren Literatur, die bislang originär für das Spielzeugklavier geschrieben ist. Aber spätestens jetzt wird deutlich, warum die drei Musiker die Kirche als Spielstätte ausgewählt haben. Denn die Akustik ist einfach fabelhaft. Das gilt auch für das nächste Stück, einer Konjugation für Klarinette und Posaune, die Yasutaki Inamori im vergangenen Jahr komponiert hat. Wie für die ersten beiden Stücke gilt auch hier, dass der Hörer nicht mit ungewöhnlichen Klängen einer neuen Musik überfordert wird. Selbst dann nicht, wenn Weston seine Klarinette der Posaune in den Rachen steckt.

Foto © O-Ton

Dass die schauspielerischen Elemente an diesem Abend sehr in den Hintergrund treten, wird kaum an der mangelnden Kreativität der Musiker liegen, sondern viel mehr an den eingängigen Stücken, die Matsuura ausgewählt hat. Und da bildet ein weiterer Klassiker des Toy Pianos, wenn nicht der Klassiker überhaupt, keine Ausnahme. 1999 schrieb Alvin Curran Inner Cities 3 for Toy Piano. Für jeden Musiker, der sich mit dem Spielzeugklavier befasst, ein Muss, ist es doch ein rhythmisches Feuerwerk, das der Komponist da in der Stadt abfackelt. Ja, wer möchte, fühlt sich ein wenig an Maschinenmusik erinnert, und die Assoziationen baulich ausgemergelter Stadtbezirke, in denen das Leben brodelt, stellen sich fast automatisch ein. Quartararo nimmt hier keine Rücksichten, sondern bearbeitet meisterhaft und ungehemmt die Miniaturklaviatur. Großartig.

Zum Abschluss des Abends zeigen Weston und Matsuura noch einmal, dass man neue Musik nicht durchgängig in Hurz messen muss. Florian Magnus Maier komponierte im vergangenen Jahr Helix. Nein, eine Helix-Struktur wird hier nicht hörbar, aber den beiden Bläsern gelingt eine packende Interpretation, die das Publikum bis zum Schluss fesselt, ehe es in begeisterten Applaus ausbricht. Schaut man nach den Gemeinsamkeiten der beiden Abende, wird man außer der Kreativität und Spielfreude der Musiker nicht viel finden. Das ist äußerst vielversprechend für die noch ausstehenden beiden Konzerte am 2. und 23. Juli in der Ruffactory. Und es ist dem Ensemble zu wünschen, dass sich mehr Kölner auf seine Interpretation neuer Musik einlassen. Spaßfaktor garantiert.

Michael S. Zerban