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Fakten zur Aufführung 

HERRSCHAFT, ARBEIT UND SOZIALES
(Luigi Nono, Mauricio Kagel,
Frederic Rzewski)
10. Dezember 2011
(Premiere)

Wuppertaler Bühnen
im Historischen Zentrum Wuppertal


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Unsere Ignoranz

Der Aufführungsort ist Teil der Premiere. Das Historische Zentrum, ein Museum, das die frühe Industrie- und Sozialgeschichte Wuppertals thematisiert. 50 Meter entfernt steht das Haus, in dem Friedrich Engels aufwuchs, der gemeinsam mit Karl Marx den Arbeitern der beginnenden Frühindustrialisierung ihre politische Lage bewusst und sie auf ihre Rechte aufmerksam machen wollte. Dies ist, aus neuer Sicht, das Thema der Produktion Herrschaft, Arbeit und Soziales, ein Abend aus drei Stücken und verschiedenen Musikstilen. Der Titel stellt die drei Kernbegriffe heraus, um die herum Markus Höller szenische, textliche und musikalische Elemente in drei Szenen anordnet.

Die Musik für La fabbrica illuminata hat der italienische Komponist Luigi Nono um 1960 komponiert und damit akustisch die Arbeitsbedingungen von Industriearbeitern im Italien der 60-er Jahre eingefangen. Die Zuschauer betreten einen leeren Raum und werden gebeten, sich um ein Leinwandrund zu gruppieren, das in der Mitte des Raumes steht. Über die Leinwände laufen Projektionen von nicht identifizierbaren Fabrik- oder Technikteilen, Fabrikgeräusche unterschiedlichster Art werden eingespielt. Nach kurzer Zeit ertönt aus dem weißen Leinwandrund eine helle, klare Sopranstimme, die italienische Texte singt. Dann tritt die Sängerin der Leinwand von innen näher und öffnet das Rund, in dessen Zentrum sich eine beleuchtete Kabel- und Lampensäule dreht und Projektionen wirft. Allmählich öffnet die Protagonistin das weiße Rund, der Blick fällt immer mehr auf die Lichtsäule, die Zuschauer werden Teil der unterschiedlichsten, teils sehr lauten Geräusche, die als Betriebsgeräusche die Umwelt der Arbeiter skizzieren. Immer wieder überlagert der wunderschöne Sopran von Dorothea Brandt diese Geräuschkulisse und gibt dem Szenario mal den harten, fast schmerzenden Klang der Maschinengeräusche, mal mit Weichheit und Innigkeit sehnsuchtsvolle Klänge. Dann schaltet sie langsam eine Lampe nach der anderen aus, die Säule erlischt.

Der Tribun in der zweiten Szene, zu dem der argentinisch-deutsche Komponist Mauricio Kagel einen diffusen musikalischen Hintergrund und 10 Märsche, um den Sieg zu verfehlen liefert, ist eine durch und durch skurrile, intelligent satirische Szene mit viel Wortwitz. Sie stellt die Probe eines Tribuns dar, der eine große Rede an sein Volk üben will. Viele Sprüche und Gesten tun weh, sie kommen dem Zuschauer sehr bekannt vor, weil sie zeitlos sind. Olaf Haye gibt einem herrlich selbstverliebten, dabei aber beiläufig agierenden Tribunen eine Gestalt, die einerseits wegen ihrer Genauigkeit oft schmerzt, andererseits köstlich in ihren knappen Überspitzungen und unendlichen Wort- und Satzverdrehungen ist: „Mein Volk – liebes Volk – Volk…“.  Er weiß es genau:„ Ich habe keine Feinde – in Freiheit!“. Und dann folgt wieder der Griff zu einer Taste, die Beifallsgeräusche erklingen lässt und zum Schluss seiner Rede immer länger eingeschaltet bleibt. Auf einem riesigen Fabrikantentisch, ein Instrument der Macht, hat Licht- und Videodesigner Tobias Daemgen dem Tribun einen Gerätepark mit Kabelsalat dekoriert, den Olaf Haye souverän bedient und damit den Bogen zurück schlägt zu den beherrschten und herrschenden Maschinen. Ob einer der Schlusssätze des Tribuns –  „Wir pflegen liebevoll unsere Ignoranz.“ – eher auf die Besitzer der Produktionsmittel oder die Arbeiter als Veränderer bezogen ist, bleibt offen.

Im dritten Stück Coming together hat der Komponist Frederic Rzewski den Text eines Briefes verarbeitet, den der Gefängnisinsasse und später erschossene Sam Melville an einen Freund in den USA schrieb. Als gebürtiger Amerikaner, der später viele Jahre in Italien arbeitete, kennt Rzewski das Innenleben geschlossener Institutionen in den USA. Der Beschreibung der unmenschlichen Haftbedingungen mit einer nicht enden wollenden Satzschlange, ihrer Wiederholung und Verkürzung, setzt er eine frei improvisierende Musik entgegen. Ein kleines Ensemble des Sinfonieorchesters Wuppertal unterlegt verschiedene Rhythmen und Tonfolgen dem ostinaten, spannungsreichen Duktus des Sprechers, der von Gregor Henze mit nicht nachlassender Intensität verkörpert wird. Er wiederholt auf diese Weise die geladene Eintönigkeit des Gefängnisalltags. Nach dem letzten Wort sind die Zuhörer erschüttert und  erleichtert zugleich.

Dem Tribun in der zweiten Szene reicht seine Applaustaste völlig zur Gestaltung seines akustischen Hintergrundes, während in den Szenen eins und drei Geräusche, Töne und komponierte Passagen konstitutiver Bestandteil sind. Bei Nono bilden Fabrikgeräusche und Chorelemente einen mal schrillen, mal wohlklingenden Kontrast zum Gesang von Dorothea Brandt, in der dritten Szene gibt der ostinate Sprechton von Gregor Henze das Tempo vor, dem die kleine Formation des Wuppertaler Sinfonieorchesters unter Leitung von Eva Caspari zusätzliche Akzente verleiht. Die Musiksprachen der einzelnen Szenen sind höchst unterschiedlicher Art und verlangen vom Zuhörer Offenheit.

Markus Höller hat mit dieser Produktion politisches Musiktheater inszeniert, wie es moderner, glaubwürdiger und unterhaltsamer kaum sein könnte. Das überschaubare Publikum, darunter offensichtlich eine kleine Fangemeinde dieser Form politischen Theaters, spendet lang anhaltenden Beifall für alle Beteiligten und verspürt noch gar keine Lust, den Abend zu beenden, sondern ihn in vielen Gesprächen fortzusetzen. Eine gelungene Inszenierung.

Horst Dichanz

 

 



Fotos: pillboxs