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Fakten zur Aufführung 

FÜR DIE KINDER VON GESTERN, HEUTE UND MORGEN.
– EIN STÜCK VON PINA BAUSCH

(Pina Bausch)
18. Januar 2014
(Uraufführung am 25. April 2002)

Tanztheater Wuppertal, Opernhaus


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Das Eichhorn und die Fledermaus

Pina Bausch – selbst Menschen, die mit zeitgenössischem Tanz nichts am Hut haben, sprechen diesen Namen ehrfürchtig aus. Sie ist die wichtigste Choreografin im Nachkriegsdeutschland, wurde von den Medien mit dem despektierlichen Titel „Exportartikel Nr. 1“ bedacht und hat die Tanzwelt verändert. 2009 verließ sie die Bühne des Lebens. Nachdem sie fünf Tage zuvor erfahren hatte, dass sie an Krebs erkrankt war. Was bleibt, ist ein tänzerisches Erbe, mit dem es jetzt umzugehen gilt. Berufen dazu fühlt sich das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch, das in dieser Spielzeit sein 40-jähriges Jubiläum begeht. Aber schon da wird es schwierig. Wie soll dieses Erbe bewahrt werden? Noch bestreiten Weggefährten Bauschs Lehre und Tanzveranstaltungen. Was aber passiert über das „museale Erbe“, ohne eben diesen Tänzern zu nahe treten zu wollen, hinaus? Was entwickelt sich weiter, wie wird archiviert, um die Entwicklungen zu überprüfen? Die Feierlichkeiten zum Jubiläum jedenfalls beantworten solche Fragen nicht. Da gibt es auf der eigens eingerichteten Website zwar Programmtabellen, aber davon dürfen der Besucher respektive die Besucherin bei Weitem nicht erwarten, Informationen zu den Werken zu bekommen. Warum aber sollte ein „Außenstehender“ einen Tanzabend mit der Dauer von drei Stunden und dem sperrigen Titel Für die Kinder von gestern, heute und morgen – Ein Stück von Pina Bausch besuchen? Gewiss, noch sind die Aufführungen ausverkauft, noch reichen Programmhefte ohne jeden Inhalt aus, aber wie lange wird das in einer Zeit, die kein Gedächtnis, keine Erinnerung mehr kennt, ausreichen, um das Geniale einer Pina Bausch für die Dauer zu bewahren?

Zumal die Aufführung eben dieser Choreografie einmal mehr beweist, dass das Besondere an Pina Bausch war, dass eine Beschreibung ihrer Werke im Wort nicht ansatzweise, die Filmaufnahmen nicht annähernd ausreichen, um die Atmosphäre eines solchen Abends zu erfassen. Nicht allzu oft erlebt man, dass ein Bühnenabend einen von der ersten Sekunde an fesselt. Die Bühne von Peter Pabst ist ein weißer Raum, der aus drei Verschiebewänden besteht, die beiden seitlichen von jeweils einer Tür, die hintere von einem überdimensionalen Fenster durchbrochen. Nein, es ist nicht der Nimbus, eine Aufführung von Pina Bausch zu besuchen, die für Inszenierung und Choreografie verantwortlich zeichnet, sondern diese andere Welt, die so unmittelbar und intensiv auf das Publikum einstürmt. Tanztheater, so Pina Bausch, darf ja alles. Und also findet alles statt. Ungewöhnliche Situationen, poetische Momente und tief in die Seele greifende Texte folgen unablässig aufeinander. Paul White, australisches Supertalent, ist zu Gast am Tanztheater und bleibt ganz weit hinter den üblichen physischen Anstrengungen zurück. Hier muss er Ausdruck lernen, und das gelingt ihm in wunderbarer Weise. Denn Bauschs Tanztheater ist vorerst nicht tänzerisch anstrengend. Es sind die feinen Gesten, die kargen Worte, die klugen Bewegungen, die den Ausdruck formen. Da darfst du nicht mit dem Kopf rangehen, dann verstehst du gar nichts. Kurze Sequenzen reihen sich aneinander, die nahezu alle in sich eine Pointe bergen, entführen dich in diese andere Welt des Sehnens, Liebens, Leidens und des Humors, kurzum einer Emotionalität, die in unserer „Wirklichkeit“ längst verloren scheint.

Zu einer Mischung von Jazz, Tango, Blues, später auch Rock, präsentieren sich die Tänzerinnen in transparenten luftig-leichten Kleidern, die die Prüderie heutiger Tanzveranstaltungen vergessen machen und die wahrhaftige Erotik des Tanzes erneut heraufbeschwören. Nicht das Versprechen von Erotik, sondern die ureigene Wahrhaftigkeit findet hier statt. Als Teil des Ganzen. Auch die Männer werden von Marion Cito nicht in schwüle Versprechen-nicht-halten-wollende Ballettkostüme, sondern in „Alltagskleidung“ gewandet, die neben der Beweglichkeit auch die Eleganz der männlichen Bewegung unterstreicht. Dass sich kein Tänzer zu verstecken braucht, stellt Bausch mit ihrem Licht unter Beweis. Hier gibt es nichts Halbverborgenes. In reinem Weißlicht finden sich die Tänzer wieder – und wie viele Abstufungen es davon gibt, ist faszinierend. Keinen Moment entsteht an diesem Abend der Eindruck, dass die tänzerischen Darbietungen im „Putzlicht“ stattfinden. Stattdessen baut das Licht ständig neue Spannung auf. Und beweist einmal mehr, das „dunkel ausgeleuchtete“ Bühnen Ausdrucksmittel der Langeweile und Einfallslosigkeit sind.

In diesem grandiosen Licht wird jede Geste sichtbar, gewinnt ihre ganz eigene Bedeutung. Bis in die Haarspitzen geht das. Wenn Julie Anne Stanzak zum Besen greift, um sich durch die Haare zu fahren, und ihr die anderen folgen, wird das deutlich. Lutz Förster und Dominique Mercy vermitteln das Gefühl, sich wieder in der Uraufführung von 2002 zu befinden. Die beiden Weggefährten Bauschs haben die ureigene Sprache des Tanztheaters mit entwickelt und verinnerlicht. Aber auch die übrigen Ensemble-Mitglieder vermitteln die Ausdrucksformen, die in der ganzen Welt berühmt geworden sind. In vielen kleinen Einzelszenen läuft die „Handlung“ auf die Geschichte hinaus, die Förster mit dem Rücken zum Publikum sitzend vorträgt, während Stanzak großartig einen Tango nuevo interpretiert. Es ist die Geschichte von der Sonne, die der Erde zu nahe kommt und sich in den Ästen eines Baumes verfängt. Ein Eichhörnchen will helfen und nagt die Äste ab. Dabei erblindet es und der buschige Schwanz verbrennt. Zur Belohnung für die Hilfe wird aus dem Eichhörnchen eine Fledermaus. Die flatterhaften Bewegungen sind bereits den ganzen Abend über immer wieder zu sehen gewesen, ob in den Soli von Ditta Miranda Jasjfi oder Azusa Seyama, ob in den Ensemble-Szenen, in denen auch Clémentine Deluy und Helena Pikon eine hervorragende Figur machen. Für viele Lacher sorgt die herrliche Interpretation von Nazareth Panadero. Auch die Herren Pablo Aran Gimeno, Rainer Behr, Scott Jennings, Pascal Merighi, Michael Strecker und Fernando Suels Mendoza begeistern sowohl in den kleinen Szenen als auch vor allem im kraftvollen Schlussakt.

Als ein prachtvolles Kaleidoskop der Gefühle nach drei Stunden zu Ende geht, hält es das Publikum nicht auf den Stühlen. Tosender Beifall für eine Geschichtsveranstaltung, der hoffentlich eine große Zukunft beschieden ist.

Michael S. Zerban

 

Fotos: Amir Safir Filho/Jong-Duk Woo