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Fakten zur Aufführung 

LASCIA CHE ACCADA/
JOSEPHSLEGENDE

(Roberto Scafati, Anna Vita)
8. März 2014
(Premiere)

Mainfranken Theater Würzburg


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Gewagte Kombination

Der 150. Geburtstag von Richard Strauss ist für viele Theater willkommener Anlass, Werke des Komponisten in ihren Spielplan aufzunehmen. Diese Idee hat auch das Würzburger Mainfranken Theater mit seinem viel gerühmten Ballett. Dessen Chefin Anna Vita wählt sich also für ihre eigene Choreografie die Josephs-Legende op. 63, die Ballettmusik nach den Vorlagen von Hugo von Hofmannsthal und Harry Graf Kessler, in Paris 1914 bei der Uraufführung durch die Ballets russes nicht sonderlich von Erfolg gekrönt. Doch aus dem Werk ergeben sich für das kleine Haus zwei Schwierigkeiten: Diese Ballettmusik ist eine der am größten besetzten Kompositionen von Strauss, erfordert ein Orchester von 120 Mitwirkenden. Und für ein solches Klangvolumen ist das Würzburger Theater mit seinen 60 Philharmonikern einfach nicht angelegt. Im Klartext heißt das: Die Musik kommt vom Band. Die zweite Schwierigkeit: Die Josephslegende dauert 60 Minuten, füllt also keinen ganzen Abend. Was kann man also damit kombinieren? Da greift Vita auf ein Angebot ihres Ulmer Kollegen Roberto Scafati zurück. Er entwarf für die Würzburger Truppe ein ganz neues, abstraktes Ballett nach zeitgenössischer Musik, Lascia che accada, was nichts anderes heißt als „Lass es geschehen“. Die Kombination solch unterschiedlicher Teile, eines konkreten, erzählenden Tanztheaters mit einem modernen, frei assoziierenden Ballett verspricht einen Abend der Kontraste. Dennoch kann sich der Besucher fragen, was das Verbindende solch unterschiedlicher Konzepte sein kann. Einmal ist es das Stilmittel der Reduktion – natürlich den Zwängen eines kleinen Hauses geschuldet – mit einer Ballett-Compagnie von zwölf Tänzerinnen und Tänzern, und dann sind es die modernen Tanzelemente.

Der Abend wird eingeleitet mit der Uraufführung von Scafatis Lascia che accada zu zeitgenössischen Klängen von Glass bis Amalds, natürlich vom Band, von ganz unterschiedlichen Stimmungsaussagen, die sich dann auch in den Bewegungen niederschlagen. Es beginnt fast mystisch geheimnisvoll, mit einem Kreis von neun Menschen, im Nebel hockend, während Luftballons hochschweben. Diese dunklen, glänzenden Ballons fungieren quasi wie eigenständige Partner der Tänzer, mal über deren Köpfen wie schwerelos, mal dicht am Körper, mal unabhängig von den Tänzern im Raum verteilt wie Orientierungsmarken, Hindernisse oder eigene Figuren. In Verbindung mit den Körperbewegungen der Tänzer erzeugen die Ballons ständig wechselnde, optisch und grafisch höchst eindrucksvolle Bilder auf der ansonsten leeren, schwarzen Bühne von Sandra Dehler. Scafati lässt die Tänzer zu Reihen, Gruppen oder Paaren formieren; vieles findet am Boden statt, in überraschenden Bewegungsabläufen mit oft gymnastischen Elementen. Neben der meist fleischfarbenen Tanzgruppe, die mit silbern transparenten Röcken oder Hosen durch Kristopher Kempf ausgestattet ist, fällt eine Figur auf, ein Mädchen im weißen Kleid. Es verhält sich meist anders, entfernt sich von der Gruppe, steht oft außerhalb oder geht seinen eigenen Weg, während sich Paare zusammenfinden. Erst als ein Tänzer, Ivan Alboresi, nach einem beeindruckenden Solo mit seinem Ballon, mit der Kleinen zu einem ungewöhnlichen Pas de deux zusammenfindet, ändert sich ihr Verhalten, und sie lässt ihren Ballon platzen. Auch als später Leuchtstäbe den Bühnenraum erhellen, alle von einem pompösen Wesen fasziniert sind, greift das Mädchen ein und streift der seltsamen Erscheinung den Aufputz ab. Dieses unschuldige Wesen bekommt durch die kleine, kompakte Ran Takahashi und ihre kraftvollen Bewegungen eine anrührende Ausstrahlung von Kindlichkeit. Am Schluss, als bunte Luftballons wie Regentropfen, passend zur Musik, herabfallen, die Tänzer sich wechselnd kombinieren, zeigt sich die Kleine ungerührt von dem, was die anderen treiben. Scafati will mit seiner neuen Ballettschöpfung keineswegs tief schürfend Menschheitsfragen aufzeigen, sondern er möchte dazu aufrufen, sich einzulassen auf das Hier und Jetzt, selbstbestimmt und ohne Beeinflussung durch andere seinen Weg zu gehen und so Probleme zu lösen. Die Ballettfreunde bei der Premiere belohnen ihn für seine innovative, für viele Deutungen offene Tanz-Darbietung mit lautem Jubel.

In gewisser Weise bietet das Verhalten des kleinen Mädchens eine Parallele zu Joseph aus der biblischen Legende, der trotz aller Widrigkeiten seinen eigenen Weg bewahrt. Von seinen Brüdern verstoßen, in eine Zisterne geworfen, in die Sklaverei nach Ägypten ins Haus des reichen Potiphar verkauft, gewinnt er durch sein reines, gottesfürchtiges Wesen die Zuneigung seines Herrn, widersteht den Annäherungsversuchen von dessen Frau und wird schließlich in die Freiheit, in die Heimat entlassen. Anna Vita leitet ihr Handlungsballett ein, indem sie durch ein Video die Vorgeschichte zeigt, nämlich wie der freundliche Joseph aus der Brunnentiefe heraus die Köpfe seiner neidischen Brüder über dem Brunnenrand sieht. Danach beginnt die eigentliche Handlung im alten Ägypten im Haus des Potiphar, durch das Bühnenbild von Sandra Dehler mit wenigen Hinweisen angedeutet. Auf zwei raumhohen Thronen sitzen Potiphar und seine Frau wie starre historische Statuen. Zwei Dienerpaare bezeugen ihnen in wechselnden Kombinationen und Figuren Ehrerbietung und strahlen eine gewisse Lebendigkeit und Fröhlichkeit aus. Herr und Herrin dagegen zeigen in ihren weit ausladenden, hoheitsvollen, fast etwas steifen Bewegungen ihre Würde, aber auch, dass die Beziehung untereinander etwas abgekühlt ist. Als der Sklave Joseph, eingewickelt in ein braunes Tuch, hereingezerrt wird, ist er erst den grausamen Behandlungen und Verhöhnungen seiner Mitsklaven ausgesetzt; doch bald ändert sich die Stimmung. Aleksey Zagorulko als Joseph fällt schon durch seinen hellen, muskulösen Körper, seine kraftvollen, energiegeladenen, abgerundeten Bewegungen auf und bildet so einen deutlichen Gegensatz zu den dunklen, braunen Dienerpaaren mit ihrem unterwürfigen oder aggressiven Ausdruck; noch stärker ist der Kontrast zu Potiphar, Felipe Soares Calvalcante, und seiner Frau, Ivana Kocevska, beide groß gewachsen, langgliedrig und sehr schlank, von Kristopher Kempf altägyptisch eingekleidet in Blau und Gold. Eindrucksvoll wirkt die Szene, als Potiphars Frau den unschuldig schlafenden Joseph verführen will, er sich aber wehrt. Gott greift in Form eines Lichtkegels ein; die Frau ist gedemütigt. Potiphar aber entlässt den standhaften Joseph in die Freiheit, der als Erlöster von den Seinen wieder aufgenommen wird und dem Licht entgegen schreitet. In diesem Ballett von Anna Vita wird die Geschichte linear erzählt, mit sehr reduzierten Mitteln, in neoklassischem bis modernem Stil, unter gänzlichem Verzicht auf glanzvolle Ausstattung, wie sie ursprünglich von Hofmannsthal angedacht war. Zu dem mächtigen Klangrausch von Strauss allerdings wirkt die tänzerische Umsetzung und Vereinfachung dann doch manchmal etwas harmlos.

Dennoch gibt es vom Premierenpublikum im fast voll besetzten Haus langen und sehr freundlichen Beifall.

Renate Freyeisen

 

Fotos: Sylvain Guillot