Fundus   Kommentar    Backstage     Medien     Medientipps     Kontakt     Impressum    Wir über uns  
   Dossier    Kleinanzeigen     Links     Facebook     Partner von DuMont Reiseverlag  
     

Fakten zur Aufführung 

WRITTEN ON SKIN
(George Benjamin)
17. Juni 2013
(Premiere am 14. Juni 2013)

Wiener Festwochen
im Theater an der Wien


Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

Bühne

Publikum

Chat-Faktor


Rezensionen-Archiv

Aufführungen nach Name
Aufführungen nach Ort


 
 

zurück       Leserbrief

Grausige, alptraumhafte Mär

Gut, salzig und zugleich süß“, so beschreibt Agnés, im Gesicht blutverschmiert, geschlagen und gedemütigt am Tisch sitzend, das Mahl, das ihr ihr Mann vorsetzt. Und nochmals stellt dieser die gleiche Frage, bis er ihr höhnisch eröffnet, dass sie soeben das Herz ihres Geliebten gegessen habe: Sicher die grausigste Szene, die von einer ebensolchen Musik ergreifend untermalt wird, aus Written on Skin, der zweiten Oper von George Benjamin und dem Librettisten Martin Crimp, die 2012 bei den Festspielen in Aix-en-Provence mit Riesenerfolg uraufgeführt wurde und jetzt mit ebensolchem Erfolg bei den Wiener Festwochen gezeigt wird, bevor sie bei den Münchner Opernfestspielen zu sehen sein wird.

Die Sage von Le Coeur mangé, dem gegessenen Herzen, aus dem 13. Jahrhundert über Guillem de Cabestanh, einen Troubadour aus der Provence, ist aber auch grausig genug: Ein reicher, herrschsüchtiger Mann, der Protector, lädt einen jungen Buchmaler in sein Haus ein, um sein Leben und die „Reinheit“ seiner Frau, die er unterdrückt und schlecht wie eine Bedienstete behandelt, zu preisen. Die Frau verführt den „Boy“, wie er in der Oper bezeichnet wird, und findet so ihre Weiblichkeit wieder. Der Ehemann kommt hinter die Wahrheit, tötet den Boy und setzt sein Herz seiner Frau Agnès zum Mahl vor. Noch bevor er sie schließlich mit dem Messer töten kann, begeht diese den für sie befreienden Selbstmord, indem sie aus dem Fenster springt.

Der britische Dramatiker Martin Crimp, der mit dem Komponisten nach der gemeinsamen, erfolgreichen Oper Into The Hill schon das zweite Mal zusammenarbeitet, stützt sich bei seinem Libretto auf mittelalterliche Manuskripte und lässt alle Figuren narrativ sprechen: Sie übernehmen auch den Text des Erzählers und erzählen über sich selbst. Zudem hat er noch die Ebene der Engel eingeführt, die die Szene kommentieren, mitwirken und immer wieder in die Handlung eingreifen.

Written on Skin ist ein klassisches Zieldrama, ein letal endendes Dreiecksverhältnis, das im Theater an der Wien von Katie Mitchell genial umgesetzt wird. Da sitzt jede Aktion, jede Geste, passend zur Handlung und zur Musik. Und so wird die Story zum alptraumhaften Thriller, dem sich niemand entziehen kann, der sich in vier Zimmern, zwei im Heute, zwei im Mittelalter – die Ausstattung stammt von Vicki Mortimer – abspielt, wodurch es zur fließenden Vermischung der Zeiten kommt. Denn die Gegenwart wird als weitere Ebene eingefügt. Jeder Charakter kommentiert das Geschehen und wird zum Beobachter seiner selbst.

Das funktioniert aber auch nur, weil ein Ensemble zu Verfügung steht, das bis zur Selbstverleugnung mitmacht, alle erstklassige Singschauspieler. Allen voran Barbara Hannigan, die einzige von der Originalbesetzung aus Aix. Sie ist Agnès, eine expressive Frau, die phänomenal spielt und die klaren Vokallinien mit allen Spitzentönen exzellent singt. Audun Iversen ist der brutale Macho Protector und singt ihn mit machtvollem Bariton. Iestyn Davies ist ein Engel, der zum Boy mutiert und diesen mit glasklarem Countertenor singt. In kleineren Rollen erlebt man noch, ebenfalls untadelig, Victoria Simmonds als Angel 2 beziehungsweise als Marie sowie Allan Clayton als Angel 3 beziehungsweise John.

Der 53-jährige George Benjamin gilt als einer der profiliertesten, englischen Komponisten der Gegenwart. Seine Tonsprache ist polystilistisch und übersetzt jede Szene genial. Insgesamt so packend, dass man thrillerartig mitgerissen wird. Neben archaischen Klängen und schwebenden Tönen, die auch sehr bedrohlich wirken, steigert sie sich von Szene zu Szene. Expressiv, schrill aber auch atmosphärisch klangmalerisch. Extrem schwülstig etwa ist die Verführungsszene. Neben mittelalterlichen Klängen und vielen tonalen Sequenzen, gibt es auch heftige Dissonanzen. Und immer wieder hört man den pochenden Herzschlag von der großen Trommel und exzessive, eruptive Ausbrüche. Es ist eine faszinierende Klangwelt mit phänomenalen Farbmischungen, eine gekonnte Verschmelzung von Stilen.

Kent Nagano am Pult des auf etwa 60 Musiker erweiterten Klangforums Wien setzt die vielschichtige Partitur mit umfangreichem Schlagwerk und seltenen Instrumenten wie Viola da Gamba oder Glasharmonika mit Akribie, Exaktheit, Souveränität um, lässt mühelos einen Gänsehautfaktor entstehen und entwickelt eine unwiderstehliche Sogwirkung.

Unbeschreiblicher Jubel des Publikums ergießt sich zum Schluss über alle, und das für eine „moderne“ Oper, der sicher ein längeres Leben auf den Spielplänen vorausgesagt werden kann. Das Genre Oper gibt damit ein erfreulich, kräftiges Lebenszeichen von sich.

Helmut Christian Mayer







Fotos: Armin Bardel