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Fakten zur Aufführung 

A HARLOT'S PROGRESS
(Iain Bell)
24. Oktober 2013
(Premiere am 13. Oktober 2013)

Theater an der Wien


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Rücksichtslos

Ganz langsam öffnen sich die beiden riesigen, weißen Flügel des Bretterverschlages und geben den Blick auf einen dichten, beinahe undurchdringlichen Nebel frei. Darin wälzen sich kaum erkennbar Körper am Boden, während das Orchester in dunklem Blech und tiefen Streichern dahin wabert. Gliedmaßen werden vereinzelt in die Höhe gestreckt. Ein Mann steht auf und wird sofort mit einem Messer niedergestochen: In dieser düsteren emotionalen Stimmung beginnt A Harlot’s Progress vom Briten Iain Bell im Theater an der Wien und lässt Bedrohliches und Schlimmes vom verdorbenen Sündenpfuhl der ehemals so schmutzigen Metropole London erahnen.

Aber die Geschichte der unschuldigen Landpomeranze Molly, eine Art Verschnitt aus Manon und Lulu, ist ja auch keine feinfühlige und schöne. Aufbauend auf den Kupferstichen von William Hogarth von 1732 – auf einer späteren Serie hat ja bekanntlich schon Igor Strawinski mit seiner Oper The Rake’s Progress zurückgegriffen – hat Peter Ackroyd ein schauriges Libretto verfasst: Geschildert wird das Schicksal einer Unschuld vom Lande, namens Moll Hackabout, die nach London kommt, einer Kupplerin und Puffmutter in die Hände gerät, von einem lüsternen Greis entjungfert wird, von einem, von ihr geliebten Gangster zur Hure gemacht, ins Gefängnis geworfen wird und dort an Syphilis stirbt.

Jens-Daniel Herzog setzt auf die an sich schon harte Kost mit der vom Librettisten geschaffenen, sehr derben, milieubedingten Sprache, noch eines drauf. Alles wird noch um eine Drehung brutaler, noch drastischer gezeigt. Da wird gemordet, geschlagen, da werden alle nur erdenklichen freiwilligen und unfreiwilligen Formen des Kopulierens dargestellt, allein und im Kollektiv und zum Finale sogar mit dem Holzsarg, in dem die Tote liegt: Alles zu überzogen und zu plakativ. Dramaturgisch muss man zudem noch bemängeln, dass man schon nach 15 Minuten den Ausgang der Tragödie kennt, und dass der unaufhörliche Niedergang der Molly für den Zuschauer in einem zu rasanten Tempo, ja fast schon im Zeitraffer stattfindet. All das sieht man in überwiegend billigen bis schäbigen Kostümen, die von Sibylle Gädeke stammen, einem weißen Einheitsraum, das Bühnenbild stammt von Mathis Neidhart, das einmal das elegante Schlafzimmer des Greises, dann Mollys ärmliche Wohnung und schließlich das Gefängnis darstellt.

Von großer, packender Symbolkraft erscheint die Idee, dass es fast von Beginn an schwarze Flocken vom Himmel regnet. Denn wenn Mollys Abstieg anfängt, und sie der geile Greis entjungfert, beginnen sie herunterzufallen, bis zum Finale der Boden vollständig mit Dreck bedeckt ist.

Die Musik der ersten Oper des 32-jährigen Briten hat zweifellos ihre spannungsgeladenen Vorzüge, aber auch Längen und wälzt sich manchmal regelrecht dahin. Sie ist überwiegend tonal mit weiten Gesangslinien, sie wirkt sicher weniger intellektuell und anspruchsvoll wie so manches andere Zeitgenössische. Angesagt ist erweiterte Tonalität mit gewissen Reibungen. Nach der Pause erwachen die Klänge zu mehr Dramatik und auch zu Szenen höchster Intimität: „Schau sie an, sie muss weinen, weinen um mich…“ – Höchste, schneidende Streicher erklingen, Cello und Kontrabass setzen rhythmische Akzente hinzu. Sie wälzt sich halb irre im Dreck, von offenen Wunden übersät, von der Krankheit gezeichnet, in Lumpen gehüllt und sucht verzweifelt ihr Kind. Bei der beinahe 20-minütigen „Wahnsinnsarie“ der Molly, die von Diana Damrau mit höchster Intensität gesungen wird, stockt einem schon der Atem: Mal reine Vokalismen summend, mal höchste Töne expressiv hinausschreiend. Wie überhaupt der Komponist diese Rolle, jene bittere Fallstudie aus dem frühen Kapitalismus, der deutschen Starsopranistin förmlich auf den Leib geschrieben hat. Welches Seelenbild und welche emotionalen Nuancen die Damrau bis zur Selbstaufgabe und ihrem Mut zur Hässlichkeit aus dieser Rolle schöpft, ist stimmlich und szenisch schon eine Glanzleistung.

Intensiv, wenn auch schon mit etwas reifem Timbre, hört man Marie McLaughlin als fiese Puffmutter Needham. Tara Erraught ist eine fassettenreiche, schönstimmige Kitty, Molls Freundin. Nathan Gunn ist ein sehr viriler, gemeiner und ausnützender Bandit James Dalton. Christopher Gillet gibt eine wenig kraftvolle und recht eindimensionale Studie des Lustgreises Lovelace. Nicolas Testé verleiht allein drei Nebenrollen mit seinem ausnehmend schönen Bass markantes Profil. Der Arnold-Schönberg-Chor, der von Erwin Ortner wieder sorgfältig einstudiert wurde, punktet nicht nur stimmlich, sondern ist auch bewegungstechnisch in der Choreographie von Ramses Sigl stark gefordert.

Die dunklen Klänge von London, der Stadt ist auch ein viertöniges, disharmonisches Leitmotiv ohne Auflösung zugeordnet, wie auch die vielen expressiven Töne werden von den Wiener Symphonikern unter dem Finnen Mikko Franck hochkonzentriert, ausdrucksvoll, souverän und nach der Pause zugespitzter und insgesamt stringenter musiziert.

Zum Finale hört man mittelstarken Applaus beim Publikum, der sich bei den Sängern, besonders bei Diana Damrau, berechtigterweise zu Bravi-Rufen steigert.

Helmut Christian Mayer

Fotos: Werner Kmetitsch