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Fakten zur Aufführung 

LOLITA
(Rodion Shchedrin)
23. Juni 2011
(Deutsche Erstaufführung: 30. April 2011)

Hessisches Staatstheater Wiesbaden


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Musik

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Wenn Sie auf die erste Taste von links klicken, hören Sie das Interview von Franz R. Stuke mit der Dramaturgin Karin Dietrich (3‘23).

 

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Deadly Sex

Die Entstehungsgeschichte ist wichtig: Vladimir Nabokov wandert in den 30er Jahren über Berlin in die USA, verarbeitet Edgar Allan Poes Ehe mit einer Zwölfjährigen und eine spektakuläre Kindesentführung zum Lolita-Roman, der 1955 in Paris erscheint. Rodion Shchedrin ist autochthoner Russe, mit engen Verbindungen nach Deutschland (seit den 70er Jahren), seine Lolita-Oper wird 1994 in Stockholm uraufgeführt. 2011 die deutsche Erstaufführung in Wiesbaden – mit deutschem Text!

Karin Dietrich hat dies anspruchsvolle Projekt – in Kontakt mit dem Komponisten – dramaturgisch umsichtig vorbereitet. Konstanze Lauterbach setzt das Pädophilen-Drama hoch sensibel in Szene: Humbert ist ein sex-besessener Lolita-„Eroberer“, zweifelt an sich selbst, übt am Ende Rache an dem zynisch-skrupellosen Clare Quilty – endet selbst in Verzweiflung: zum Tode verurteilt durch ein Gericht der „öffentlichen Meinung“. Die Inszenierung verzichtet sowohl auf historische als aktualisierende Verweise – setzt sich intensiv mit sexuell bestimmten menschlichen Grenzsituationen auseinander, entwickelt eine beeindruckende Ästhetik der Ambivalenz ohne theoretisierende Didaktik.

Andreas Janders Bühne wird im ersten Teil von schrägen Wänden mit gekritzelten kindlichen Traumbotschaften, im zweiten Teil mit fotorealistischen Dünen beherrscht – inmitten wechselnder Requisiten (Sessel, Betten, Matratzen) ein sich permanent drehender Brummkreisel, assoziations-provozierend, optisch suggestiv, verstärkt durch geworfene Luftschlangen und herabhängende gelbe Faden-„Wälder“.

Shchedrins Musik „illustriert“ mit virtuos eingesetzten Instrumenten die extremen Emotionen der handelnd-leidenden Personen, gewinnt Intensität vor allem in den abgründigen Piano-Passagen im Kontrast zu den Forte-Einsätzen des Blechs. Wolfgang Ott dirigiert in nahezu stoischer Konzentration das Wiesbadener Orchester. Die Musiker folgen in hoher Perfektion, interpretieren einen variablen Klang und sind ständig in Kommunikation mit dem Bühnengeschehen.

Mit Emma Pearson ist eine wunderbare Sänger-Darstellerin zu erleben, der es gelingt, die Pubertäts-Irritation eines Mädchens bewegend auszudrücken – und stimmlich eindrucksvoll mit virtuoser Intonation zum Leben zu erwecken! Sebastien Soules wird mit der Mammut-Partie des Humbert staunenswert fertig: souverän differenziert im Spiel, hervorragend im Ausdruck – aggressiv in der Leidenschaft, virtuos in den Selbstzweifeln. Ute Döring gibt der Charlotte ungemein ambivalenten Charakter, vermittelt mit ihrer Präsenz und ihrer flexibel-lagensicherer Stimme Leidenschaft und Demütigung äußerst nachhaltig. Thomas Piffka ist der brutale Porno-King, setzt seine tenorale Kompetenz kompetent ein, überzeugt mit sicherer selbstbewusster Artikulation und wird zum negativen alter ego des verstörten Humbert.

Die Chöre der Wiesbadener Oper bilden – stimmstark, flexibel – den aggressiv-kommentierenden Part (Leitung Anton Tremmel).

Das wilhelminische Wiesbadener Theater ist nicht voll besetzt – das eher traditionell orientierte Publikum ist offensichtlich (noch) nicht bereit, sich auf Ungewöhnliches einzulassen. Doch: Im gespannt folgenden Auditorium überwiegt die zustimmende Akklamation – Bravi für die Akteure!

Franz R. Stuke