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Fakten zur Aufführung 

LA TRAVIATA
(Giuseppe Verdi)
1. September 2013
(Premiere am 12. November 2004)

Teatro La Fenice di Venezia


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E' strano!

2013 jährt sich der Geburtstag von Giuseppe Verdi zum 200. Mal. Grund genug, die auch davon ganz unabhängig gern und viel gespielten Opern Verdis in den Spielplänen der internationalen Opernhäuser zu platzieren. So auch zurzeit in Venedig: Im Teatro La Fenice kam die Oper La Traviata vor 160 Jahren zur Premiere und wurde, nachdem sie erst beim Publikum durchfiel, ein riesiger Erfolg. Da ist es eine Selbstverständlichkeit, dass die Traviata auch im Geburtsjahr Verdis im Spielplan präsent ist, wenn auch mit einer Wiederaufnahme: 2004 inszenierte der Kanadier Robert Carsen die Traviata zur Wiedereröffnung des Theaters La Fenice, das, zuvor von Bränden und Misswirtschaft gezeichnet, endlich wieder bespielt werden konnte.

Carsen verlegt die von Alexandre Dumas dem Jüngeren mit ordentlich Gesellschaftskritik angelegte Kameliendame in die Neuzeit. Violetta ist Edelprostituierte, umgeben von High Society und schicken Hippies in dezent dunklen Farbkombinationen. Sexuell enthemmt ist die Klientel, und die Protagonistin verliert inmitten der illustren Gesellschaft ihr sonst so verruchtes „Kurtisanen“-Image prompt. Prostitution ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen und über allem schwebt der Kapitalismus mitsamt dessen Kritik: Das Stück beginnt, die ersten Töne der Traviata erklingen, und der prunkvolle, dunkelblaue und golden verzierte Samtvorhang des Fenice rafft sich langsam nach oben, um den Blick frei zu geben auf Violetta, die inmitten einer überdimensionalen, dunkelgrün edel ausgestatteten Liegewiese sitzt und von allen Seiten die Geldscheine ihrer Freier überreicht bekommt. Die dezente und dennoch sehr nobel anmutende Ausstattung sowie die Kostüme stammen von Patrick Kinmonth. Sein klarer Aufbau im Wechsel des Bühnenbilds überzeugt und ist gut konzipiert. Das Lichtdesign von Peter Van Praet und Robert Carsen unterstützen das hervorragend. Zum Beispiel wenn im zweiten Akt der bereits zuvor als Posterausschnitt über Violettas Bett zu erkennende Wald bildgebend für den gesamten Hintergrund wird und es in wunderbar waldigen Lichtverhältnissen Dollarscheine regnet.

Das zweite Bild, der Ball der Freundin Flora, gleicht einem Revue-Etablissement: Eine kleine Bühne mit viel Glitzer, einzelne Tische mit kleinen Lampen darauf, ein Conférencier führt durch den illustren Abend der Unterhaltung von Zigeunerinnen und Stierkämpfern. Im letzten Akt ist der subtile Glanz verschwunden. Aus der Traum vom besseren Leben: Die Märchenwald-Tapete hängt in Fetzen von der Wand, auf dem Boden steht ein Fernseher, der kein Bild zeigt, es ist düster und leer, die Gesellschaft hat die Sterbende längst vergessen und feiert den bunten Karneval in Paris.

Ekaterina Bakanova spielt und singt die Violetta mit voller Überzeugung, stimmlich klar, konturiert und anmutig in den leisen Tönen. Sie schafft es, den Zwiespalt der Rolle aufzuzeigen: Die Entsagung vom bisherigen Dasein, in dem sie den Schmerz des Lebens in Partys, Konsum und mit Freiern zu ersticken suchte. Für die Hinwendung zu ihrer Wunschvorstellung eines besseren Lebens auf dem Lande mit einem Mann, der sie liebt. Carsen versetzt diesen Teil in einen Märchenwald und macht so deutlich, dass diese Idylle nicht lange währen kann. Schließlich hat jedes Märchen ein Ende und nicht alle gehen gut aus. Piero Pretti in der Rolle des Alfredo Germont benötigt an diesem Abend etwas zu viel Zeit, um das Publikum von seiner stimmlichen Tragkraft zu überzeugen. Sein Vater Giorgio Germont, gesungen vom Bariton Dimitri Platanias, tritt da klanglich etwas überzeugender auf. Schließlich ist es auch an ihm, das Glück von Violetta und Alfredo zerbrechen zu müssen, um die gesellschaftlichen Konventionen zu wahren.

Besonders gerne hört man an diesem Abend den Damen und Herren des Chores unter der Leitung von Claudio Marino Moretti zu. Sie zeigen an den richtigen Stellen gemeinsame Durchschlagkraft und geben dem Drama Tiefe und den angemessenen gesellschaftlichen Rahmen. Das Orchester unter der Leitung von Diego Matheuz benötigt zu Beginn ebenfalls etwas Zeit, um mit den Sängern gemeinsam zu musizieren. Das gibt sich aber schnell, und so kann die klangliche Brillanz des Klangkörpers zur vollen Entfaltung gelangen.

Was an Unstimmigkeiten auf der Bühne nach anfänglichen Startschwierigkeiten in professionelles Gebaren mündet, findet im Zuschauerraum kein Ende. Eine seltsame Atmosphäre herrscht hier: Da werden Stühle vom Publikum in den Rängen gerückt, Scheinwerferfolien gewechselt, Platzanweiserinnen stehen im ständigen Austausch oder tippen auf ihren Handys, Mobiltelefone klingeln, Smartphone-Bildschirme blitzen auf, es werden dauernd Fotos geschossen. Der auf der Bühne kritisierte Kapitalismus zeigt sich an diesem Abend von seiner unschönen Seite: Offensichtlich gehört es zum guten Ton, als finanzstarke Venedig-Touristen dem Fenice einen Besuch abzustatten und das prunkvolle Haus als Bühne der Selbstdarstellung zu nutzen. Da stöckeln die aufgehübschten Damen an die goldbesetzten Balustraden, um noch ein „ich war da“-Bild fürs soziale Netzwerk zu produzieren. Die Herren sorgen für ausreichend Champagner, und die seltsame Atmosphäre mündet in einem beschämend müden Applaus für die Darsteller, der zeitweise sogar ausbleibt. Dabei ist gerade das Ende des Abends auf der Bühne so schön anzusehen: Violetta, im Begriff zu sterben, tritt an die Rampe, breitet beide Arme aus, und im goldbesetzten Zuschauerraum wird das Saallicht eingedimmt. Violetta huldigt damit noch einmal die Pracht des Theaters und des Lebens, um dann, mit den Worten E' strano! ... Cessarono gli spasmi del dolore, in me rinasce … m’anima insolito vigore! in den Armen Alfredos zu sterben. Seltsam, dass so wenige Zuschauer von so viel Emotion gerührt sind. Sie entströmen dem Theater in die laue Sommernacht und nehmen unter freiem Himmel Platz an den Tischen der angrenzenden Restaurants, wo man sie bereits erwartet. Nur wenig später setzt Sommerregen ein – zu schade!

Jasmina Schebesta

Fotos: Michele Crosera