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Fakten zur Aufführung 

WUNDERZAICHEN
(Marc André)
16. März 2014
(Premiere am 2. März 2014)

Staatsoper Stuttgart


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Ars sublime - eine schwäbische Entdeckerreise

Der Auftrag des Stuttgarter Opernhauses zu diesem Werk erfolgte vor sieben Jahren an den jungen französischen Komponisten Marc André. 1964 in Paris geboren, studierte er mehrere Jahre bei Helmut Lachenmann in Stuttgart Komposition. Mit ihm arbeitete er an der systematischen Erfassung und Analyse des Klanges. Es werden die ersten Computer eingesetzt, um zu durchleuchten, wie ein Ton, ein Klang entsteht, wie er lebt und stirbt. Man beginnt alles zu nutzen, was klingen kann und überschreitet bestehende Grenzen. Marc Andrés Musik ist farbenreich, zerbrechlich, atonal und doch harmonisch, vielschichtig aber nicht aggressiv – Ars Sublime oder Musique Spectrale genannt.

Es entsteht der Gedanke, ein Werk in Verbindung mit dem 1522 in Stuttgart verstorbenen ersten deutschen Humanisten Johannes Reuchlin zu kreieren. Dieser prägte seine Zeit mit dem Aufbegehren gegen die Verbrennung jüdischer Schriften und forderte Lehrstühle für Hebräisch in Deutschland, um die heiligen Schriften in ihrer Originalsprache zu studieren und so an den Quell der Wahrheit zu gelangen. Er selbst studierte Hebräisch, verfasste die ersten Wörterbücher und war ein profunder Kenner der Kabbala.

Um die akustischen Spuren der heiligen Schriften zu erfassen, begibt sich der Komponist nach Palästina, er schläft in der Grabeskirche, um diese klanglich zu vermessen, macht Tonaufnahmen von der Wüste, von Regen, Wind und den Bewohnern. Bei der Heimreise kommt es zu einem Schlüsselerlebnis am Flughafen Ben Gurion. Er wird von Beamten verhört, durchsucht und beinahe an der Ausreise gehindert. Die Handlung der Oper ist geboren.

So erleben wir die Zollformalitäten bei der Einreise, die Johann alias Reuchlin verweigert wird. Er hat hebräisch studiert und will einmal vor seinem nahenden Tod das heilige Land bereisen. Er wird verhört, trifft bei der Polizei Maria, der auch die Einreise verweigert wird. Die beiden gehen in ein Fast-Food-Lokal am Flughafen. Johann stirbt, sein Körper wird abtransportiert, und er begleitet das Geschehen aus dem Jenseits. Maria trauert und erlaubt dem Toten nicht, sie zu berühren. Aus dem Lautsprecher kommt die Ansage, der letzte Aufruf für Johann, sein Flugzeug zu besteigen.

Jossi Wieler und Sergio Morabito haben diese Parabel über die Fragwürdigkeit einer Identität ausdrucksstark auf die Bühne gebracht. Es entsteht reales Leben. Bilder, die jeder von seinem letzten Aufenthalt am Flughafen kennt. Problemlos integrieren sie die Anforderungen des Komponisten an die klangliche Gestaltung und Schöpfung. Nicht nur das Orchester, alles und jeder wird Ursprung von Klang und Musik. Die Vorstellung von Oper wird auf den Kopf gestellt. Die Rolle des Johann wird vom Schauspieler André Jung dargestellt und gesprochen. Claudia Barainsky gibt der Maria viel Ausdruck und mystisches Erscheinen. Sie bewegt sich mit ihrer Stimme in feinen Obertönen, bewegungslos aus dem Inneren geformt. Anspruchsvoll ist die Aufgabe des Chors: Neben dem Musizieren mit Geigenbögen auf den Handgelenken, bewältigt er auch im Finale Soli von 20 Stimmen. Sylvain Cambreling agiert sehr konzentriert im tief gelegten Orchestergraben. Es braucht viel Feingefühl, die Klangvielfalt und differenzierte Volumina zu gestalten. Am Ende eine hervorragende Leistung aller Beteiligten.

Diese erste Oper von Marc André geht sehr weit in der Auflösung des Bekannten. Es ist reizvoll und lohnend, sich auf seine Klangspuren einzulassen. Minimalistisch wuchtig wirkt sein musikalisches Gebäude, es dringt unter die Haut, ohne aufdringlich zu werden. Es wird spannend bleiben, weitere Werke dieses Komponisten kennenzulernen. Das ausverkaufte Haus und die Begeisterung des Publikums dokumentieren gesteigertes Interesse an neuen Wegen.

Helmut Pitsch

Fotos: A. T. Schaefer