Fundus   Kommentar    Backstage     Medien     Medientipps     Kontakt     Impressum    Wir über uns  
   Dossier    Kleinanzeigen     Links     Facebook     Partner von DuMont Reiseverlag  
     

Fakten zur Aufführung 

IPHIGENIE IN AULIS
(Christoph Willibald Gluck)
23. November 2012
(Premiere am 1. November 2012)

Staatsoper Stuttgart


Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

Bühne

Publikum

Chat-Faktor


Rezensionen-Archiv

Aufführungen nach Name
Aufführungen nach Ort


 
 

zurück       Leserbrief

Doch alles ist nur Pose

Komisch, eigentlich wollen sie ihre Waffen gegen den imaginären Feind zücken, nur der Herrscher zögert und zaudert. Normalerweise ist die Sache umgekehrt, und „Führer“ aller Arten sind die Kriegstreiber. Vielleicht liegt darin ein Ansatzpunkt für die Inszenierung der Oper Iphigenie in Aulis von Christoph Willibald Gluck in Stuttgart. Denn Regisseurin Andrea Moses hinterfragt den statuarischen Ernst des antik gefärbten Dramas, wo Götter sich durch den Oberpriester äußern und angebliches Schicksal brutal die innerfamiliäre Harmonie zerstört. Der Ausweg für die Inszenierung: Den „Helden“ die absurde Seite abgewinnen und sie als diskrete Parodie ihrer selbst darzustellen.

Das funktioniert ausgezeichnet. In einer Art Fabrikhalle – könnte auch eine überdachte Werft sein, wenn im Schlussbild auf dem angedeuteten Deck das Segel gehisst wird – geht ein gequälter Agamemnon unschlüssig auf und ab. Ein Bourbon soll ihm im Chefsessel aufhelfen, doch die kleinen Fluchten misslingen. Das Kriegervolk will Taten sehen, und Kalchas kann den fehlenden Wind nur herbeizaubern, indem den ungnädigen Göttern die liebreizende Iphigenie als Opfer dargeboten wird. Bühnenbildner Christian Wiehle, der auch die stilisierten Kostüme durch raffinierte Schlichtheit eindringlich macht – stellt dafür eine Guillotine bereit, in die Iphigenie, vom locker-leckeren Mädel zur opferbereiten Tragödin mutiert, ihr blondes Haupt hineinsteckt. Nun denn, am Ende sind die Götter doch noch besänftigt und ein doppelter Freudentaumel erfasst die Figuren: Der Kriegerchor mit schwarzen Baretts darf endlich gegen den Feind in Troja ziehen, und Iphigenie wird in den Armen ihres Bräutigams Achill beim Glücks-Tanz immer wieder ohnmächtig. Die Hochzeit kommt ihr seltsam vor.

Warum wohl? Andrea Moses zeichnet die Figuren sehr feinsinnig. Achill, der unbezwingbare Held, darf eher unbedarft und immer ein bisschen neben der Spur seine unterschwellige Homosexualität zu Patroklos andeuten. Gergely Németi hat dafür perfektes Spiel und einen strahlenden, jugendlichen Tenor parat. Bezaubernd die Darstellung der Iphigenie durch Mandy Fredrich, denn ihr Sopran ist locker und leicht geführt, hat Stabilität und feine Farben. Die Naive, die mit Rollkoffer die Szene betritt und durch ihre Zofen mythologische Paris-Äpfel verteilen lässt, ist ebenso ironisch hinterfragt, wie später die Wandlung zur Tragödin. Nichts ist wirklich, doch alles ist echt. Stolz und prächtig blüht immer der Bariton von Shigeo Ishino als unentschlossener Agamemnon auf, der seine Tochter nicht opfern will, aber vermeintliche Staatsraison akzeptiert und sich durch die Nebentür davonschleicht.

Dramatische Farben gibt Mezzosopranistin Hadar Halévy der Klytämnestra mit, um diese Figur gebrochen zu zeigen: Ja, ja, sie will Iphigenie entweder retten oder vorher in den Tod gehen, aber mit ihrem attraktiven, türkisfarbenen Kleid wird das nichts. Auch sie ist Teil der Fassade, mit welcher das Pathos des Sujets charmant hinterfragt wird. Dort hinein passt Ronan Collett mit nuanciertem Bariton als Kalchas ausgezeichnet. Er manipuliert, auch sich selbst. Kommt ein bisschen günstiger Wind auf, definiert er das als gnädigen Wink der Götter, womit er seine Deutungshoheit bewahrt. Adam Cioffari mit schlankem Bass und ranker Jugendlichkeit gibt den Patroklos, und Kai Preußker mit kernig-dunklem Bariton jenen Arkas, den Gewissensbisse quälen.

Das historisch informierte Staatsorchester Stuttgart musiziert unter Christoph Poppen sehr, sehr schön, denn es klingt immer transparent, zeichnet Linien und bleibt im Einklang mit der Inszenierung auch im musikalischen Pathos immer nuanciert. Kraftvoll und edel zugleich agiert der Chor, den Christoph Heil einstudiert.

Kurzum: Das Publikum ist hoch zufrieden, und ein Besuch lohnt sich. Wer mit dem Auto anreist, sollte werktags mindestens ein Extra-Stündchen einkalkulieren, um den Zielpunkt zu erreichen.

Eckhard Britsch

Fotos: A. T. Schaefer