Fundus   Kommentar    Backstage     Medien     Medientipps     Kontakt     Impressum    Wir über uns  
   Dossier    Kleinanzeigen     Links     Facebook     Partner von DuMont Reiseverlag  
     

Fakten zur Aufführung 

FAUSTS VERDAMMNIS
(Hector Berlioz)
30. Oktober 2011
(Premiere)

Staatstheater Stuttgart


Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

Bühne

Publikum

Chat-Faktor


Rezensionen-Archiv

Aufführungen nach Name
Aufführungen nach Ort


 
 

zurück       Leserbrief

Im Dickicht der Bilder

Neue Namen, neue Gesichter - Opernexperimente. In Stuttgart wurde mit Spannung die Antrittsinszenierung der neuen Intendanz von Jossi Wieler erwartet. Doch nicht der Intendant selbst, sondern seine Chefregisseurin Andrea Moses, die er aus Dessau abwarb, führt Regie bei Berlioz` Fausts Verdammnis. Ein Opernexperiment insofern, als diese im Untertitel „Dramatische Legende“ genannte Vertonung des Faust-Stoffes gemeinhin als unspielbar gilt und daher in der Regel konzertant aufgeführt wird - wie auch in Stuttgart schon einmal im Jahr 1993.

Heute lässt sich also die mit ihren 39 Jahren vergleichsweise junge Regisseurin Moses auf dieses Wagnis ein Sie sei sich bewusst, sagt sie, welch riesige Vertrauensvorgabe es seitens der Intendanz bedeute, ihr die Eröffnungspremiere einer neuen Ära zu überlassen. Und sie gibt - wie immer - ihr Bestes. Angesichts eines solch schwierigen Stoffes bleibt auch das Beste eine Gratwanderung. Berlioz schrieb mit La Damnation de Faust keine dramaturgisch in sich geschlossene Oper, sondern eine Aneinanderreihung einzelner Bilder und Stationen. Die konzertante Uraufführung fand mit wenig Erfolg 1846 an der Opéra comique in Paris statt. Es gibt viel zu sehen und zu denken in der Stuttgarter Neuinszenierung - und man bleibt hinterher etwas ratlos zurück.

Möglicherweise ist eine konzertante Fassung dieses Stoffes die bessere Idee, denn die eindrucksvolle, Bilder und Emotionen evozierende Musik ist eigenständig genug, und die von Moses und ihrem Bühnenbildner Christian Wiehle hinzu erfundenen Bilder sind in der Regel inkongruent - das Bild passt nicht zur Musik. Die Herausforderung bei dieser Arbeit besteht, so Moses, darin, innerhalb der musikalischen Strukturen und den nur fragmentarisch vorhandenen Handlungssträngen eine eigenständige zusammenhängende Geschichte, die für unsere heutige Zeit Relevanz hat, aufzuspüren.

Berlioz fasste seine zwischen Oratorium und Nummernoper changierende Faust-Adaption in vier Bilder. Bild eins spielt im heutigen Ungarn. Faust, gespielt und gesungen vom Tenor Pavel Cernoch, sitzt vor einem etwas ältlichen Modell eines Wohnwagens auf einem Campingstuhl. Eine Hochzeitsgesellschaft zieht auf und baut Tische und Bänke für die Feier auf. Aus den folkloristischen Kostümen ist zu schließen, dass es sich um ein Fest von Sinti und Roma handelt. Eine Trupp paramilitärischer Schläger drischt mit Schlagstöcken auf die Festgemeinde ein und treibt sie auseinander. Faust nimmt das Geschehen mit seiner Videokamera auf. Berlioz wählte Ungarn als Standort des ersten Bildes, um seinen berühmt gewordenen Rákóczi-Marsch zu etablieren, der heute so etwas wie die heimliche Nationalhymne Ungarns ist. Moses, die sich in ihren bisherigen Arbeiten als politische Regisseurin profiliert hat, nutzt diese Vorgabe, um auf die heutigen Verhältnisse in Ungarn hinzuweisen, als Warnung vor dem Rechtsruck, den das Land seit den letzten Wahlen vollzogen hat.

Bild zwei und die weiteren Bilder spielen in Deutschland. Wir sehen Faust in seinem Wohnzimmer sitzen, an sich und der Welt verzweifelnd, selbstmordgefährdet. Er ist ein sensibler Charakter, nicht in der Lage, das Weltgeschehen, das er durch die Kamera gefiltert wahrnimmt, zu verarbeiten. Dies ist die Stunde des Versuchers - der Zyniker Mephistophélès tritt auf den Plan. Wie aus der Goetheschen Dichtung bekannt, verspricht er, Faust überwältigende Dinge zu zeigen, ihm Reichtum, Glück und Liebe zu verschaffen, und fordert als Gegenleistung Fausts Seele.

Er zeigt ihm Auerbachs Keller, in dem sich eine Horde von Verbindungsstudenten bei ihren Fechtduellen Schmisse beibringen. Wie schon in der Hochzeitsszene des Anfangs ist auch hier der Chor der Stuttgarter Oper in den Massenszenen besetzt. Faust zeigt sich von den Mensuren nicht beeindruckt. Mephisto - hervorragend als schlüpfriger Unsympath gespielt von Robert Haywarth, dessen Bassbariton die Stimmen der anderen Solisten überragt - muss sich eine Steigerung der Versuchungen einfallen lassen. Er lässt dem schlafenden Faust Margarete im Traum erscheinen und hinfort ist dieser von der Idee besessen, die Frau für sich zu gewinnen.

Moses hat hier einen Kunstgriff angewendet, der im Original nicht vorgesehen ist. Sie führt die Figur der Margarete schon von Anbeginn der Inszenierung als Komplizin Mephistos ein. Nur durch einen Kostümwechsel wird aus der Verführungsassistentin Mephistos später Margarete - und am Schluss, als der Seelentausch vollzogen ist,  verwandelt sich Margarete wieder in die ursprüngliche Rolle zurück. Die Mezzosopranistin  Maria Riccarda Wesseling singt diese Partie nicht immer ganz sicher, doch erntet sie genauso wie die anderen Protagonisten großen Applaus für ihre Darbietung.

Kwamé Ryan, der kanadische Dirigent mit Vorfahren aus Trinidad, führt das Orchester der Stuttgarter Oper sicher durch die eindrucksvolle Musik, wenngleich er die Vielschichtigkeit, die französische Leichtigkeit und oft auch die Ironie der Musik nicht immer zu übersetzen weiß. Faust erobert Margarete, sie entbrennt sogar in Liebe zu ihm - was der Anlage der Geschichte als gedungener Verführerin widerspricht. Das Beisammensein des Liebespaares wird durch Mephisto und seine Kumpane immer wieder gestört. Ein Kinderchor tritt auf, völlig unmotiviert - und schließlich verlässt Faust Margarete, auch dies bleibt im Kontext der Handlung unerklärt.

Schon seit Jahren arbeitet die Regisseurin mit ihrem Bühnenbildner zusammen. Auch in Fausts Verdammnis zeichnet Wiehle für Bühne und Kostüme verantwortlich. Seine Ausstattung gerät hier jedoch nahezu zu einer Ausstattungsorgie, so als habe er den Bildwelten von Berlioz nicht getraut. Die gesamte Bühnenmaschinerie ist im Einsatz. Podeste fahren rauf und runter, Prospekte kommen aus dem Schnürboden, Hunderte von Kostümen wurden geschneidert. Doch irgendwie wollen die einzelnen Bildwelten nicht zusammenpassen. Das karge Ambiente des Anfangs mit der Wohnwagenszene wird nicht durchgehalten und hätte doch der Aufführung gut getan. Die späteren Bildwelten sind überfrachtet, gestrig - wirken altmodisch und zopfig. Erst am Schluss, bei der Höllenfahrt von Mephisto und Faust, gelingen Wiehle wieder eindrucksvoll reduzierte Bilder, die nicht die Sinne erschlagen und von der eigenen Sprache der Musik eher ablenken. Durch ein rasantes Licht- und Schattenspiel, das die verlorenen Seelen in der Hölle symbolisieren mag, erzeugt er einen visuellen Sog, der den Ritt in die Unterwelt optisch gelungen umsetzt.

Am Ende: Nicht enden wollender Applaus des Stuttgarter Publikums. Und die Solisten auf der Bühne strahlen vor Glück und Erleichterung, dass die immense Spannung und der Erwartungsdruck vor dieser viel beachteten Einstiegsinszenierung nun vorbei und an diesem Abend glückvoll beendet sind.

Christina Haberlik






 
Fotos: A. T. Schaefer