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Fakten zur Aufführung 

IQ
(Enno Poppe)
27. April 2012
(Uraufführung)

Schwetzinger Festspiele


Points of Honor                      

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Variationen über Intelligenz

Die Jubiläumssaison der Schwetzinger Festspiele hat mit der Uraufführung von Enno Poppes Oper IQ begonnen. Es handelt sich um eine experimentierfreudige wie kompositorisch innovative Oper über Intelligenzfragen. Dabei geht es dem Komponisten Enno Poppe und dem Literaten Marcel Beyer um eine „IQ-Testbatterie in acht Akten“ mit der Zielvorstellung, die Intelligenz an Probanden in skurril absurd gebauten Testverfahren zu messen und am Ende des Projekts ein Ergebnis zu verkünden. Was hat das auf einer Opernbühne zu suchen? Diese Frage stellt der Komponist selbst. Dass Poppe eine provokative Stellung zum modernen Musiktheater bezieht, steht außer Zweifel. Ist der stoffliche Aspekt auch genügend bühnenwirksam?

Sänger und Musiker unterziehen sich jeweils mit zunehmendem Schwierigkeitsgrad unterschiedlich gelagerten, an Länge zunehmenden Testverfahren, in die auch Musik, Licht, Kostüme und Requisiten wie Variationen einbezogen werden. Was da ohne Pausen in gut einhundert Minuten in vielen Szenen aneinandergereiht wird, weitet sich letztlich zu einer Großform, die – so der Komponist Enno Poppe –  Systeme kritisch hinterfragen soll. IQ ist das Gegenteil einer Handlungsoper. Von grotesken Einstellungen, massiert auftretenden Turbulenzen bis hin zu Szenen der Verzweiflung wird der Stoff durchdekliniert und variiert, so dass sich aus der scheinbar staubtrockenen Thematik ein durchaus provokatives Musiktheater herauskristallisiert. An dramaturgischer Spannung mangelt es - abgesehen von dem sich arg in die Länge ziehenden Epilog - sicherlich nicht.

Poppe setzt auf die Form der Variation, lässt in jedem Akt eine vierteilige Gliederung in Ouvertüre, Rezitativ, Arie und Finale in unterschiedlicher Länge und nach jeweiliger inhaltlicher Substanz der Testläufe variieren. Jeder Akt erscheint als Oper für sich. Kurz bemessen ist der erste Akt. Er dauert nur knappe drei Minuten. Die Testerin lässt den Probanden „Formen erkennen und zuordnen“. Weiter geht es mit der Testaufgabe „Papier falten“, dann sind Farben zu erkennen, schließlich mathematische Gleichungen zu bilden, Töne nachzuspielen. Im emotional geformten, lebhaft ablaufenden sechsten und siebten Akt sind „Ähnlichkeiten von Dingen und Wörtern“ zu erkennen. Der sechste Akt zieht sich fast eine halbe Stunde hin. Letztlich verkündet der Schlussakt mit Epilog in frei stehender, von der Variation losgelöster Form die Testergebnisse, was allerdings durch die penetrante songhafte Diktion und Verwendung von billigen Gitarren zur nicht enden wollenden Hörerfahrung gerät.

Wie läuft das Ritual der Ermittlung des Intelligenzquotienten ab? Zu diesem Zweck montiert Marcel Beyer alle Stimmen der Tester und Probanden zu einem Textbuch für IQ. Für die höchst eigenwillige, absurd anmutende Testsprache engagieren sich die Protagonisten hingebungsvoll. Mit welch sprachlicher wie vokaler Eloquenz, mit welch darstellerischem Geschick diese grotesken Szenen über die Bühne gehen, nötigt allen Respekt ab. Das große Lob verdient vor allem das superb eingestellte Klangforum Wien, das bezwingende Hörerlebnisse präsentiert. Von den Musikern hört man dynamisch kontrastreiche Klänge, die in ihrer Unmittelbarkeit, Virtuosität und wachsenden Komplexität aufhorchen lassen. Mitunter erscheint die Musik immer vielgesichtiger – ein lebendig-komplex verwobener Sound, der in den verschachtelten Linien von den Ausführenden höchste Konzentration abverlangt. Zwischendurch verlassen einzelne Musiker den Graben, um selbst in den Testaktionen auf der Bühne in die Rolle der Probanden zu schlüpfen. Das Klangforum Wien verkörpert gleichermaßen eine instrumentale, szenische und chorische Funktion – Multitasking in Perfektion. In diesem Versuchssystem sind die Instrumentalisten, die Bühne, Belichtung, Schauspieler und Vokalisten also integrale Bestandteile.

Anna Viebrock, die langjährige Weggenossin von Christoph Marthaler, stellt IQ auf die Bühne des Rokokotheaters in Schwetzingen. Die Visualisierung gelingt mit beeindruckender Formkraft. Einer Testbatterie, bestehend aus Computern, Equipment zum Schreddern der Testbögen, Apparaten für Live-Elektronik, Keyboard und diversen Klangerzeugern stehen Arbeitstische für die Probanden gegenüber. Das räumliche Areal vermittelt den Eindruck eines Testlabors.  

Musikalisch ist die Aufführung unter der Leitung des Komponisten akkurat einstudiert. Wer einen Blick in die Partitur wirft, sieht, wie vertrackt Enno Poppe seine komplexen Klänge ausstaffiert, angereichert mit den kompliziertesten rhythmischen Abläufen, mikrotonalen Relationen und diffizilen dynamischen Vorschriften. Warum muss das alles so kompliziert sein? Warum scheut sich der Komponist, Griffigkeit durch transparentere luftigere Strukturen zu schaffen?  Da bedarf es schon der Koryphäen vom Wiener Klangforum, um in dieser musikalischen Hexenküche auf der rechten Spur zu bleiben.

Respekt gebührt den mit charakteristischen Gesangstechniken der musikalischen Avantgarde wohl vertrauten Singdarstellern. Die fabelhafte Rosemary Hardy agiert als geschäftige Testleiterin. Katja Kolm gibt schauspielernd mit zynisch aufgezogener Strenge die Testerin. Indes suchen zwei Probanden ihre individuelle Note zu wahren. So würzt der Bariton von Omar Ebrahim mit hysterisch aufgeladener Stimmakrobatik und ungestümer Vitalität seinen „Test-Fall“ mit abstrusen gedanklichen Kapriolen, während Probandin Anna Hauf höchst eindrucksvoll grandiose vokalen Mixturen in die Waagschale wirft, permanenter Farbwechsel in den Jazz-Vocals, dunkel timbrierte, plärrende Musical-Töne, volksliedhaft Schlichtes und wechselweise naiv Operettenähnliches und opernhafter Aplomb. Die rhythmisch vibrierende Begleitung kommt vom Kontrabass, Schlagzeug und Keyboard.

Mit Vehemenz werfen sich die Protagonisten in die szenisch abwechslungsreich arrangierten IQ-Prozeduren, ohne einem platten Realismus das Wort zu reden. Den bis zum komplexen sechsten und siebten Akt für Gesangs- und Sprechstimmen auskomponierten Klangcrescendi, der Leidenschaft für das Hinterfragen der die Menschen in puncto Intelligenz einordnenden Prozeduren, spenden die Zuhörer langanhaltenden Beifall. Verständlich, weil die Souveränität der künstlerischen Mittel, das Aufblättern der facettenreich in Szene gesetzten Erkundigungen der Menschen an Nachdruck kaum zu wünschen übrig lässt. Poppes Opern-Schöpfung ist kein verrückter Ausnahmezustand. Denn fragwürdige Testverfahren und Klassifizierungen sind bei personalwirtschaftlichen Entscheidungen in der Praxis von höchster Aktualität. Insoweit treffen auch die ironisch hintergründigen Fragen  ins Schwarze.

Egon Bezold

 





Fotos: Monika Rittershaus