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Fakten zur Aufführung 

DEAD MAN WALKING
(Jake Heggie)
10. April 2014
(Premiere am 24. Januar 2014)

Staatstheater Schwerin


Points of Honor                      

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Jailrock mit Sister Helen

Wo diese Fahrt hingeht, wissen auch die Protagonisten nicht. Unter ihnen läuft ein endloses Straßenband auf einer Videoleinwand, der Mittelstreifen gibt die einzige Orientierung, Sister Helen, auf dem Weg zu dem zum Tode verurteilten Joseph De Rocher, kurz Joe genannt, sinniert über ihre Beziehung zu Gott, zur Wahrheit und zu diesem Mörder. Joe, der überführte Mörder zweier Jugendlicher hofft noch auch seine Begnadigung durch den Gouverneur. Helen möchte ihn wenigstens zum Geständnis seiner brutalen Tat bewegen, um ihm dann Gottes Vergebung zusichern zu können. Die Geschichte, die Terrence McNally für sein Libretto nutzt, beruht auf einer wahren Begebenheit aus den USA, die Sister Helen in einem Buch erzählt hat.

Das Verbrechen selbst wird in einem kurzen, durchaus brutalen Videostreifen mit meist verhuschten Bildern eingespielt, - und das reicht auch. Helen steht mit Joseph De Rocher in Briefkontakt. Nun bittet er Helen, ihn auf seinem letzten Gang zu begleiten. Helen weiß, dass sie das tun muss; sie weiß auch, dass sie diese Zusage wahrscheinlich überfordern wird, aber Joe , der zum Tode verurteilte Mörder „hat Schlimmes getan, ist aber kein schlechter Mensch“. Und so setzt sie sich den Gesprächen mit Joe aus, immer in der Hoffnung, ihn durch ein Geständnis freier zu machen. Sister Helen, der bis zur Naivität fühlende und argumentierende „Gutmensch“ stolpert immer häufiger und heftiger über Fragen, die sie und ihren Glauben tief erschüttern, ohne ihn jedoch letztlich zu gefährden. Helen verkörpert eine Religiosität, einen naturhaft-naiven Gottesglauben, den in unserer aufgeklärten europäischen Gesellschaft nicht mehr viele werden nachvollziehen können. Ihr Glaube an das Gute im Menschen, an einen persönlichen, allmächtigen aber immer vergebenden Gott hat starke Züge einer für viele Amerikaner durchaus typischen Vorstellung von Glauben und Gott, der gewisse evangelikale Züge nicht fremd sind.

Während in vielen europäischen Werken der klassischen Opernliteratur die Konflikte, aus denen heraus sich die Dramatik des Opernspiels entwickelt, sehr menschliche Züge tragen, entwickeln sich in Dead Man Walking die Konflikte, Probleme und die Dramatik in der Auseinandersetzung von Menschen mit ihrer eigenen Existenz und mit Gott. Erstaunlich ist dabei, dass es dem Autor McNally, der Regie von David Freeman und der von Gregor Rot geführten Musik gelingt, den Spannungsbogen über mehr als drei Stunden aufrecht zu halten.

Wesentlichen Anteil hieran hat die Musik Heggies, die im Wesentlichen die Reflexionen von Sister Helen, Sister Rose und dem Mörder Joe unterstützt und nur gelegentlich besonders dramatische Momente musikalisch heraushebt. In vielfarbig klingenden, oft sphärisch jenseitigen Klangflächen der Streicher bringt Heggie die nicht endenden Selbstreflexionen der Hauptfiguren zum Klingen und verleiht ihnen eine oft minutenlange wortlose Eindringlichkeit. Gregor Rot hält eine stimmungsvoll und sensibel musizierende Staatskapelle Schwerin weitgehend zurück und überlässt den Sängern den Vordergrund. Diese sind stimmlich bestens ausgestattet und vorbereitet. In den Hauptrollen überzeugen Antigone Papoulkas, Mezzosopran als Helen und Stamatia Gerothasani, Sopran als Schwester Rose mit gefühlvollen, innigen, oft fragend-wehmütigen eindringlichen Liedern von ihrer inneren Zerrissenheit. Remo Tobiaz, Bariton gibt einen eher maskulin-trotzigen, aber auch nachdenklichen und hilfsbedürftigen Joe, dem darstellerisch wie stimmlich viele Nuancen zur Verfügung stehen.

Bühne und Kostüme sind von Louie Whitemore unserer Zeit angepasst. Grobe Gitterstäbe und ein Drahtnetz reichen aus, um das Innere dieses Gefängnisses zu markieren, dessen Zentrum immer wieder die Zelle des zum Tode verurteilten Joe bildet. Ein durchweg kaltes Licht und Toplights auf den Protagonisten unterstützen die Kälte und Unmenschlichkeit der Atmosphäre. In der detailreich vorbereiteten Hinrichtung durch eine Giftinjektion endet Joe angeschnallt auf einem Exekutionstisch – kein Zufall, dass er an die gekreuzigte Christusfigur erinnert.

In den sich auf die Hinrichtung immer mehr zuspitzenden Schlussszenen tauchen Elemente auf, in denen die Regie dem Zuschauer weitere schmerzhafte Details zumutet, etwa wenn der Puls des vergifteten Mörders schließlich auf dem furchtbaren – oder doch erlösenden? – Dauerton hängen bleibt. Oder sind das Zuspitzungen, die die völlige Absurdität menschlichen Strafens deutlich machen sollen? Die Interpretation bleibt offen. – „Don´t kill my Joe! Er hat Schlimmes getan, aber er ist klein schlechter Mensch.“ – Über diese Frage sinnt Sister Helen bis zum Schluss in einer ergreifenden Arie allein auf der Bühne im kalten Licht sitzend nach - black out…

Die Aufführung, die zu einem erheblichen Teil von Jugendlichen der Oberstufe in einem Jugendabo besucht wird, überrascht mehrfach. Heggie und McNally bringen eine moderne Oper auf die Bühne, die ein sehr anspruchsvolles Thema authentisch, glaubhaft und in gewissem Sinne lebensnah aufnimmt. Das weitgehend jugendliche Publikum, das bis zum Schluss hoch aufmerksam dem Bühnengeschehen folgt, braucht einige Minuten des Atemholens, bevor es seiner Begeisterung in lang anhaltendem Beifall, vielen Bravorufen und jugendlichem Johlen Ausdruck gibt. Dead man Walking – angekommen, bestens!

Horst Dichanz

Fotos: Silke Winkler