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Fakten zur Aufführung 

LA BOHÈME
(Giacomo Puccini)
7. August 2012
(Premiere am 1. August 2012)

Salzburger Festspiele,
Großes Festspielhaus


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Eine Bohème für die Geschichtsbücher

Es gibt das erste Mal überhaupt La Bohème in der Geschichte der Salzburger Festspiele, und schon die ersten drei Vorstellungen schreiben ihre ganze eigene Geschichte. Die Premiere findet noch "ordnungsgemäß" mit großem Medienecho statt, doch schon zur zweiten Vorstellung erkrankt Tenor Piotr Bezcala so kurzfristig, dass Anna Netrebko zwei Star-Tenöre an die Seite bekommt. Bezcala spielt, während Jonas Kaufmann, der in Salzburg als Bacchus auf der Bühne steht, von der Seite singt. Zur dritten Vorstellung wird Marcello Giordani angefordert, erlernt am Vormittag immerhin rudimentär die Inszenierung.

Wer im Vorfeld die TV-Übertragung verfolgt hat, weiß um die nicht gerade bewegungsarme Personenführung von Regisseur Damiano Michieletto. Den Umständen entsprechend, erlebt man fast eine andere Aufführung, da sich Giordanis eingespielte Kollegen nun viel auf ihn konzentrieren, um ihm den Abend so einfach wie möglich zu machen. Viele kleine Zeichen weisen ihn auf seine nächste Position, zuweilen wird er sogar von einem anderen Sänger mitgenommen – das ist große kollegiale Zusammenarbeit. Insgesamt wirkt diese Bohème nun wieder etwas konventioneller als noch in der Premiere. Nicht, dass die Regie durch ihre Verlegung ins Heute das Stück großartig entstellt hätte, aber viele kleine Details fallen unter den Tisch. Etwa, wie schüchtern diese Mimi am Anfang noch ist, wenn sie statt um Feuer für ihre Kerze nun um Feuer für ihre Zigarette bittet. Die Kostüme von Carla Teti sind dem Milieu der anspruchslosen Künstler angemessen schmuddelig und so gar nicht schön, aber dafür absolut glaubwürdig.

Vor allem dank des eindrucksvollen Bühnenbildes von Paolo Fantin hat diese Bohème durchaus eine ganz eigene Aussagekraft. Zwei riesige, geschlossene Fensterflügel mit verregneten Scheiben stellen die Mansardenwände der Bohèmiens dar, die man über und durch die Mittelstege erreichen kann. Mit etwas Fantasie sieht das fast so aus, als würden die Künstler unter einer Brücke wohnen. Vor diesem riesigen Fenster zur Welt agieren die Sänger fast in Miniatur. Für den zweiten Akt ändert sich die Perspektive. Das Fenster schwingt auf und gibt die Sicht frei auf einen Stadtplan von Paris, auf dem viele kleine Häuser im Monopoliformat stehen, die nun als Sitzplätze fungieren. Eindrucksvoller kann man kaum zeigen, wie die Bohèmiens für den Augenblick glauben, über den Dingen zu stehen. Die Konsumorgie des Chores mit viel zu laut knisterndem Geschenkpapier bietet zwar eine grell bunte Ergänzung, ist aber sicher auch etwas zu plakativ. Das dritte Bild an der eingeschneiten Autobahn ist an Trostlosigkeit kaum zu überbieten. Im vierten Bild ist die Zwangsräumung der Bohèmiens unabwendbar, der Hausrat ist übereinander getürmt, das Fenster leicht geöffnet, der Hintergrund schwarz. Etwas kitschig, aber irgendwie doch bewegend, ist das Schlussbild, wenn eine geisterhafte Hand am Ende Mimis Namen von außen an das beschlagene Fenster malt und dann wieder wegwischt.

Die Wiener Philharmoniker zelebrieren diesen Moment auch mit schonungsloser Dramatik. Daniele Gatti dirigiert sie mit großer Geste, fordert viele kleine Details, zieht die Tempi für die schlagfertigen Konversationen an, lässt die Instrumente begleitend liegen in den großen Arien. Vor allem im zweiten Akt ist die Lautstärke jenseits eines kräftigen Fortes. Beispielsweise poltert das Orchester zu Musettas erstem Auftritt so los, als würden gerade etwas flotter die Riesen in Wagners Rheingold auf die Bühne stapfen, was überhaupt nicht zu Nino Machaidzes elegantem Wesen als resoluter Vamp mit strengem Zopf passt. Immerhin ihren Walzer begleiten die Wiener so charmant, dass die Vorzüge ihres schillernden Soprans klar zur Geltung kommen. In Anbetracht der schwierigen Umstände ist es sicher entschuldbar, dass Danielle Gatti oft helfend eingreifen muss um Orchester und Sänger wieder zusammen zu führen. Die Differenzen zwischen Graben und Bühne sind aber sehr deutlich und auch die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor sowie der Salzburger Festspiele- und Theater-Kinderchor singen immer wieder ihr ganz eigenes Tempo. Da haben die Chorleiter Ernst Raffelsberger und Wolfgang Götz in puncto Einsätze noch einiges nachzubessern, in Bezug auf den harmonischem Klang dagegen nichts.

Einen sehr guten Eindruck hinterlassen die Solisten. Sehr genau und niemals chargiert interpretiert Davide Fersini die Rolle des Vermieters Benoit wie einen staubtrockenen Beamten. Peter Kálmán singt den Alcindoro ebenfalls so ordentlich wie Paul Schweinester den Parpignol. Über Marcello Giordani verbietet sich eigentlich angesichts seines Einspringens und seines leidenschaftlichen Stimmeinsatzes jegliche Kritik, doch dieser Rodolfo hört sich mit seinem brüchigen Mezzavoce nicht gesund an. Im Wettstreit mit dem dominanten Orchester singt er ebenso immer eine Spur zu laut wie der etwas polternde Massimo Cavaletti als Marcello, der abgesehen von ein paar gequetschten Höhen eine tadellose Leistung bietet. Der Routinier Carlo Colombara ist ein herrlich bärbeißiger Colline. Die sängerische Entdeckung des Abends ist Alessio Arduni als Schaunard mit einer technisch sehr gut geführten, ausdrucksstarken Stimme und einer hervorragenden Spielfreude. Auf die weitere Karriere des Sängers darf man gespannt sein. Anna Netrebko setzt mit der ersten Salzburger Mimi ein weiteres Ausrufezeichen für ihre Karriere und die Geschichte der Festspiele. Ihr warm aufblühender Sopran, den sie auch bei lautem Orchester schön dezent einsetzen kann, und ihre ohnehin natürliche Präsenz erfüllen alle Erwartungen. Ihre beiden großen Solo-Nummern kostet sie mit lyrischer, beseelter Leichtigkeit aus. In den Ensembles weiß sie sich zu behaupten, ohne zu forcieren.

Nur in puncto Husten kann sie sich noch von einigen Zuschauern ein paar Tipps geben lassen. Es ist schon erstaunlich, wie präzise manche Leute in die leisesten Passagen reinhusten können, und gleichzeitig weitere Zuschauer dazu animieren mitzumachen. Der Applaus ist glücklicherweise wesentlich kräftiger als der Husten, und so feiern die Zuschauer den Einspringer Giordani und Anna Netrebko.

Christoph Broermann

Fotos: Silvia Lelli