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Fakten zur Aufführung 

ARIODANTE
(Georg Friedrich Händel)
26. April 2013
(Premiere)

Landestheater Salzburg


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Bröckelnde Fassade voll sexueller Obsessionen

Die heile Fassade trügt. Schon bald wird sie zu bröckeln beginnen. Denn nichts ist so, wie es auf den ersten Blick scheint in dieser kleinbürgerlichen Welt, in der man Ariodante von Georg Friedrich Händel am Salzburger Landestheater spielen lässt.

Denn Johannes Schütz lässt sich erst gar nicht auf irgendwelche historische Spekulationen ein, sondern verlegt den im 8. Jahrhundert in Schottland stattfindenden Plot vom edlen Ritter Ariodante, dessen Lovestory mit der Prinzessin Ginevra trotz aller intrigantischen Versuche des Nebenbuhlers Polinesso nach einigen Verwicklungen und sogar Selbstmordversuchen mit einem Happyend endet, gleich in die Jetztzeit.

Deshalb gibt es auch keinen königlichen Palast und keinen Prunk. Das Milieu ist kleinbürgerlich. Im Einheitsbild, das ebenfalls der deutsche Regisseur, der mit den Theaterpreisen „Faust“ und „Nestroy“ ausgezeichnet wurde und regelmäßig am Wiener Burgtheater und Deutschen Theater Berlin anzutreffen ist, ersonnen hat, blickt man den gesamten Abend in eine kleinbürgerliche, unaufgeräumte Wohnung mit kleinen Zimmern: Rechts ein Schlafzimmer mit Durchsicht auf ein winziges Badezimmer, links eine Kochnische mit Kühlschrank. Im Hintergrund sieht man den hinteren Teil eines alten Bootes, links eine steile Treppe in den ersten Stock. Vieles liegt achtlos am Boden herum.

Hier wohnen scheinbar alle Protagonisten gemeinsam, denn sie sind ständig anwesend. Hier wird Filterkaffee und Dosenbier getrunken. Hier wird geliebt, gestritten und gekämpft. Der schottische „König“, eine Art vergammelter Alt-68er mit langen zottigen Haaren, Bademantel und Trainingshose geht seiner eigener Tochter Ginevra immer wieder an die Wäsche und scheint sie schon jahrelang zu missbrauchen. Zwischendurch schmeißt er ihr Kinderspielzeug vom ersten Stock herunter, dann hüpft er gemeinsam mit den anderen Männern im schnell übergestreiften Schottenrock zur Ballettmusik mit Bocksprüngen über die Bühne. Schwester Dalinda strippt, lässt sich fesseln und verführen. Nach der Intrige gegen sie träumt Ginevra, dass sie sich an allen Protagonisten rächt und sie brutal umbringt. Ebenfalls träumend vollführt sie bei ihrem Vater gezwungenermaßen noch einen Blow Job bevor sie ihm mit einem Messer den Penis abschneidet, was zu Publikumsreaktionen wie Zwischenrufen wie „Aufhören“ und Buhs führt. Kindesmissbrauch, familiäre, sexuelle Zwänge, neurotische Verliebtheiten, Männerblödeleien: All diese Themen spricht Schütz mit seinen psychologischen Querverweisen sehr direkt und ungeschönt an. Er scheut auch nicht vor Gewalttätigkeit und ungustiösen, provokanten Szenen zurück. Sicher ist das alles auch nicht unbedingt sehr innovativ und zweifellos nicht jedermanns Geschmack, aber seine Sichtweise des Stoffes ist gekonnt, mit vielen Ideen in Szene gesetzt und bei allen puristischen Einwänden in sich logisch und immer nachvollziehbar.

Die Sänger sind auf Grund dessen natürlich auch darstellerisch stark gefordert. Diese und ihre sängerische Leistungen sind sehr unterschiedlich: Allen voran ist Nadezhda Karyazina zu nennen. Ihr Polinesso strotzt nur so vor Virilität, Intrigantentum und Bösartigkeit. Selbst die diffizilsten Koloraturen sind bei ihr perfekt. Ihre Stimme ist kraftvoll und trägt. Tamara Gura hingegen ist ein wenig präsenter Ariodante und wirkt kaum männlich. Sie singt mit einem sehr farbigen Mezzo besonders schön in ihrer Paradearie Scherza infida, aber auch in den anderen Lamenti. Leider setzt sie so manche Töne zu tief an. Ihre Koloraturen perlen ungemein sauber; ebenso jene von Karolina Plicková als innige Ginevra mit schöner Höhe. Marcell Bakonyi singt den schottischen König stimmgewaltig und wunderbar fokussiert. Bei Mark van Arsdale vermisst man die Legatokultur, dafür gibt er den Lurcanio sehr manieriert. Katharina Bergrath verfügt als Dalinda über ein Stimmchen, auch sollte sie noch an ihrer Intonation arbeiten. Die Rolle des Odoardo ebenso wie der Chor, der nur zweimal von den anderen Protagonisten gesungen wird, wurde völlig gestrichen. Massive Striche tragen auch sonst berechtigterweise dazu bei, dass der Abend nicht Wagnersche Längen erhält.

Man musiziert beim Mozarteum Orchester Salzburg zwar nicht auf historischen Instrumenten. Aber die Streicher spielen mit alten Bögen und Darmsaiten. Unter dem souveränen Barockspezialisten Christian Curnyn hört man viel Vitalität, Spielfreude, Farbenreichtum aber auch enorme, sensible Einfühlsamkeit.

Zum Finale gibt es viel Applaus für den Dirigent und die Sänger. Als der Regisseur die Bühne betritt, brandet ein gewaltiger Buhorkan auf.

Helmut Christian Mayer







Fotos: Christina Canaval