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Fakten zur Aufführung 

FREMD
(Hans Thomalla)
2. Juli 2011 (Uraufführung)

Staatsoper Stuttgart


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Medea im Touristenmilieu

Die Argonautensage einmal anders erzählt: Als eine „Begegnung und ihre Folgen“. Als letzte Premiere dieser Spielzeit ist an der Stuttgarter Oper die Auftragskomposition Fremd von Hans Thomalla zu sehen. Das Libretto erzählt in drei Bildern die Verbindung von Jason und Medea als Ausdruck unüberwindbarer kultureller Dissonanzen, als Culture Clash, als das Aufeinandertreffen tief verwurzelter Gegensätzlichkeiten und Unvereinbarkeiten unterschiedlicher Mentalitäten.

Als eine Oper für den Chor der Staatsoper Stuttgart will der junge Komponist Hans Thomalla sein Werk verstanden wissen. Die Anfänge dieser Arbeit gehen auf das Jahr 2006 zurück, als Thomalla eine erste Szene am damaligen Forum Neues Musiktheater aufführte. Begonnen also noch zu Zeiten des damaligen Intendanten Klaus Zehelein und nun uraufgeführt als letzte Premiere der Ära Puhlmann, die mit dieser Spielzeit zu Ende geht.

Thomalla, Jahrgang 1975, ist inzwischen Professor für Komposition an der Northwestern University in Chicago und international mit Preisen bedacht – zuletzt erhielt er den Förderpreis für Komposition der Ernst-von-Siemens-Stiftung. Er beweist mit dieser Arbeit sein großes kompositorisches Talent und hat eine wahrhaft multikomplexe Musiksprache entwickelt, um sich dem Thema anzunähern. Für das erste Bild von Fremd, das die Reise der Argonauten über das Schwarze Meer erzählt, traf er sich mit jedem der 32 Sänger und Sängerinnen des Staatsopernchores einzeln und ließ sich vorsingen, was sie außerhalb des klassischen Chorrepertoires interessiert und was sie singen können. „Ich wollte wissen, welche stimmlichen Identitäten in diesem Chor sind, um genau da mit der Komposition anzufangen“, erzählt Thomalla.

Anna Viebrock, Regisseurin, Bühnen- und Kostümbildnerin der Oper in Personalunion, gelingt es, für dieses erste Bild eine zeitgenössische Übersetzung zu finden. Ihr Ausstattungstalent kann sich hier sozusagen austoben – und längst hat die kongeniale Bilderwelten-Erfinderin, die jahrelang gemeinsam mit Christoph Marthaler unsere Theaterwelt grundlegend verändert hat, sich von der bloßen Randexistenz der Bilderwelten emanzipiert und will nun (und sie kann es, wie sie schon mehrfach unter Beweis gestellt hat) auch für die Inhalte, die sich in ihren Bildern abspielen, verantwortlich sein. Argo, das Schiff der Argonauten, ist bei ihr ein Schiffsaufbau eines Überseedampfers, in einem Videofenster erscheint die offene See, das Schwarze Meer. Kriegsschiffe oder Frachtdampfer ziehen vorüber, während sich die Argonauten auf Deck versammeln und einzeln vorgestellt werden. Ein wenig in die Länge zieht sich dieser erste Teil, er hat zu den beiden folgenden Bildern ein eindeutiges Übergewicht. Für die Kostüme der Schiffsgesellschaft hat Viebrock den Fundus der Oper geplündert – die Argonauten von einst könnten auch eine Touristentruppe auf einer griechischen Fähre von heute sein.

Erst im zweiten Bild, bei der Ankunft in Kolchis, wo es zu der Begegnung von Jason und Medea kommt, hat der Zuschauer allmählich die Chance herauszufinden, nach welchen Regeln das Werk funktioniert. Hier gelingt es dem Komponisten, eine jeweils eigene musikalische Ausdrucksform für die unterschiedlichen Welten zu finden: der rationalen der Griechen und der fremden, emotionalen – oder „barbarischen“ – wie Medea oft tituliert wird – um das „Fremde“ gegenüber dem „Zivilisierten“ abzugrenzen.

Hier bedient sich der Komponist einer List, er zitiert tongenau ganze Passagen aus Luigi Cherubinis Oper Medée von 1797 – um diese dann, kaum hat sich das Ohr an die harmonischen Klänge gewöhnt, zu dekonstruieren und mit tonlichen Querschlägen zu torpedieren. Dies nur als ein Beispiel von zahlreichen musikalischen Zitaten, die er immer wieder in seiner Partitur versteckt. Der gesamte Zuschauerraum wird als Klangraum mit einbezogen. In den Seitenlogen und in der mittigen einstigen Herrschaftsloge sind Schlagwerk und Bläser positioniert. Viehbrock kleidet die Fremde, Medea, in eine Mischung aus folkloristischem und Beduinengewand und verfremdet das Bild durch moderne schwarze heutige Stiefel. Annette Seiltgen mit ihrem dramatischen Sopran hat die schwierige Gesangspassage der Medea über ein Jahr lang einstudiert und erntet für ihre Darbietung große Anerkennung und Begeisterung.

Im dritten Bild schließlich, in Korinth, wo Jason, gesungen vom Choristen Stephan Storck, Medea wegen einer anderen Frau verlassen wird, erscheint uns eine domestizierte Medea, im bildungsbürgerlichen Ambiente einer „zivilisierten“ Welt. Viebrock gibt ihrem Aussehen nun eindeutig äußere Ähnlichkeiten mit der berühmten Medea einer Maria Callas. Und was Annette Seiltgen hier gesanglich zu leisten hat, ist etwas, was kaum in Musik übersetzt werden kann: das Entsetzen und Grauen, die eigenen Kinder zu ermorden – und doch keinen anderen Ausweg zu sehen. Die Kinder, gespielt von Julia Spaeth und Carlos Zapien, singen ihr eigenes Wiegenlied Hush, little baby, don`t say a word, bevor ihnen Medea den Gifttrank reicht.

Der Staatsopernchor Stuttgart unter Leitung von Michael Alber leistet Großartiges. Jetzt zahlt sich aus, dass der Komponist den Sängerinnen und Sängern maßgeschneiderte Partien auf den Leib geschrieben hat. Der international renommierte Experte für zeitgenössische Musik, Johannes Kalitzke, bestreitet souverän und mit viel Einfühlungsvermögen die musikalische Leitung des Abends und führt das Staatsorchester Stuttgart durch so manche Untiefe, die das Werk zu bieten hat.

Ein Teil des Publikums, wohl der, der eher traditionelle Erwartungen an einen Opernbesuch heftet, verweigert den Applaus, bleibt aber in der Minderheit, wie die Begeisterungsstürme am Ende der Aufführung zeigen.

Christina Haberlik

 











Fotos: A. T. Schäfer