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Fakten zur Aufführung 

SIMON BOCCANEGRA
(Giuseppe Verdi)
4. Dezember 2012
(Premiere am 27. November 2012)

Teatro dell'Opera di Roma,
Teatro Costanzi


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Genua liegt am Mittelmeer

Alle waren da am 27. November bei der Premiere zur Spielzeiteröffnung des Teatro dell’Opera dieses Jahres in der italienischen Hauptstadt: Präsident Giorgio Napolitano, Premierminister Mario Monti und fast sein komplettes Kabinett. Was auf den ersten Blick nicht ungewöhnlich scheint, ist es dennoch. Denn rund ein Jahr zuvor hieß hier der Premierminister noch Silvio Berlusconi, und der war mit seinen Ministern höchstens bei einem Fussballspiel anzutreffen, aber keinesfalls auf einer noch so edel besetzten Opernpremiere. Dass in diesen Zeiten keineswegs nur Prominenz zählen darf, hatte Riccardo Muti, der „Ehrendirigent auf Lebenszeit“ der römischen Oper am Vortag klargemacht: zum einen ließ er die Generalprobe am 25. November für Schüler der Mittel- und Oberstufen sowie finanziell schwache Bevölkerungsgruppen öffnen. Am Tag vor der Premiere bot der inzwischen 71-jährige Stardirigent, der eine der treibendsten und effizientesten Kräfte der musikalischen Nachwuchsförderung in Italien ist, außerdem sein ganz persönliches Education Programm in der voll besetzten Aula Magna der römischen Universität La Sapienza, wo er für Studenten eine Einführung in die Oper gab. Die bevölkerten denn auch die Galerie in den Vorstellungen und zwar lautstark...

„Ah ja, Genua!“ Der Gedanke schießt jedem italienischen oder mit Italien wohl vertrautem Zuschauer durch den Kopf, sobald sich der Vorhang in raffiniert-eleganter Raffung zum Prolog hebt. Die für diese Stadt so typischen dunkelgraugrün-hellgrau gestreiften Mauern, Säulen und Bogen bestimmen die traditionell-realistische Szenerie von Dante Ferretti und Francesca Lo Schiavo vom ersten bis zum letzten Bild, dazu marmorne Flachreliefs, imposante Statuen, massive Schiffsketten. Die Kascheure, Theatermaler und -plastiker der römischen Oper liefern hier ein wahres Meisterwerk aus einem Guss. Nur das allgegenwärtige Meer unter stets wolkenlosem Himmel erinnert entfernt an Frischhaltefolie. Ein bis zur Penetranz intensives Azurblau ist das vorherrschende Licht Alan Burretts, leider auch in den Nacht- und Verschwörungsszenen. Alles ist imposant, einschüchternd, viel zu gross und historisch bedeutsam, als dass es die Menschen, die sich darin bewegen, auf Dauer ertragen könnten: historische Erb-Last im wahrsten Sinne des Wortes, und darum geht es ja auch in dieser Oper. Dazu wird die trügerische freie Sicht auf den Horizont - die an den Zwängen der Akteure freilich nichts ändert - im Laufe des Abends im Wortsinn zugemauert. Die herrlichen, aber schweren Renaissance-Kostüme von Maurizio Millenotti nehmen auch die allerletzte Bewegungsfreiheit. Freilich zeigt ein Blick ins aufwändige Programmbuch des Abends: Andere Boccanegra-Ausstattungen in Italien sahen ähnlich aus...

Simone Boccanegra, 1857 mitten im Risorgimento im Teatro La Fenice in Venedig uraufgefürt, ist eine Revolutionsoper par excellence. Die Handlung spielt im Genua des 12. Jahrhunderts, und die „Venezianer“ sind darin die Bösen - damals freilich eine für alle verständliche Metapher für die österreichischen Besatzer. Und doch wohnt der Oper eine völkerverbindende humanistische Botschaft inne, die dazu prädestiniert ist, in Krisenzeiten - auch der heutigen, die viele Italiener und vor allem die italienische Kulturwelt in härtester Weise trifft - zu Frieden, Aufrichtigkeit und Einigkeit fern allen kleinstaaterisch-nationalistischen Dünkels zu mahnen. Dass sich Öffentliches und Privates auf der Opernbühne mischt, kennt man schon aus dem Barock. Selten sind die Verstrickungen allerdings so eng, krude und aussichtslos wie hier, wo politische Fraktionskämpfe über Jahrzehnte Familien zerrütten und entfremden. Erst eine unbelastete neue Generation wird es richten - so die Botschaft, die passenderweise auch in der aktuellen italienischen Politik die Runde macht. Die Diaolge von Francesco Maria Piave und Arrigo Boito sind kunstvoll und kompliziert; jedes Wort ist wichtig. Nicht von ungefähr hat der Dirigent (!) Riccardo Muti hier zum ersten Mal für eine von ihm dirigierte italienische Oper auf italienische Übertitel bestanden. Und die sind auch bitter nötig, denn die szenische Darstellung bietet nichts, was zum Verständnis der Handlung beitragen könnte.

Durch das massive Bühnenbild und den Meereshorizont ist der bespielbare Bühnenraum von Anfang an auf ein Minimum reduziert. Für die Regie könnte das durchaus ein Vorteil sein: Die Politik, also die pausenlosen Volksaufstände in dieser Oper, findet fast komplett im off statt. Und so konzentriert sich die Handlung auf das drei Generationen umspannende Drama zwischen vier Männern, die auf ihre Weise um ein und dieselbe Frau buhlen und dabei Ehre mit Eitelkeit verwechseln. Ein Stoff, der – so möchte man meinen – bei Regisseur Adrian Noble als langjährigem Leiter der Royal Shakespeare Company in besten Händen sein müsste. Doch Noble lässt seine Sänger buchstäblich im Stich.

So ist der rumänische Bariton George Petean ein enttäuschender Boccanegra, ohne Charisma, steif im Spiel, aber auch eindimensional flach im Gesang ohne Tiefe. Niemand nimmt ihm den faszinierenden Revolutionär und Ex-Korsaren ab. Stimmlich von ganz anderem Format ist Dmitri Beloselskiy. Doch auch er ist völlig uninszeniert, und die menschlichen Anflüge seines Fiesco sind nur eine Ahnung von dem, was hätte sein können. Der famose Francesco Meli drückt in seiner Dreifachfunktion als eifersüchtiger Liebhaber, rächender Verschwörer-Sohn und einziger Tenor umgeben von vier tiefen Widersachern teilweise etwas zu sehr auf den Kehlkopf und versucht ganz alleine, das träge Spiel der anderen wettzumachen. Einzig Quinn Kelsey als Bösewicht Paolo Albiani wagt eine Art Charakterstudie und macht ihn zu einem wirkliche Protagnonisten mit schwärzestem Bass und großer Bühnenpräsenz. Die vom Publikum so gefeierte Maria Agresta erträgt als Maria Boccanegra die Tatsache, innerhalb kürzester Zeit eine neue Identität zu erhalten, vom adoptierten Waisenkind zur Tochter des Dogen aufzusteigen, den Vater zu finden und zu verlieren und ihre große Liebe zu heiraten, stets milde lächelnd und ohne mit der Wimper zu zucken. Dazu singt sie mit hartem Sopran ohne Glanz und Lyrik. Was alle Männer dieser Oper an dieser Frau finden, bleibt ein Geheimnis. Nur ärgerlich und überflüssig sind die „choreografischen Bewegungen“ Sue Leftons, die Chor und Statisterie zu einem Mop karrikaturhafter Wut- beziehungsweise Betroffenheitsbürger reduziert.

Kaum zu glauben, aber wahr: Riccardo Muti dirigiert Verdis Simone Boccanegra zum ersten Mal! Er bietet eine hochdifferenzierte und vor allem enschlackte Lesart dieser oft nur als „schwierig“, ja, „verflucht“ abgetanen und selten gespielten Partitur. Eine frische Brise erhebt sich sozusagen aus dem Graben und erinnert, dass immer noch das Mittelmeer und nicht die Nordsee hier den Hintergrund zum Drama liefert und dass in dieser „düsteren“ Partitur zwischen Tradition und Innovation, die sogar den Einsatz von Bassklarinetten vorsieht, eine hoffnugnsvolle, ja, humanistische Botschaft innewohnt. Minutiös arbeitet Muti feinste Färbungen und Stimmungen heraus und lässt die hervorragenden Solobläser des Teatro dell’Opera di Roma zu den wahren Stars des Abends werden: allen voran Luca Vignali an der Oboe, Calogero Palermo als Klarinettist, Sauro Berti an der Bassklarinette und Agostino Accardi und Carmine Pinto mit ihren Hörnern.

An Ende nimmt's das Publikum italienisch: Entschlossen, sich nicht durch fehlende Regie den Spaß verderben zu lassen, applaudiert es begeistert dem, was es an diesem Abend gibt: einer insgesamt guten bis sehr guten Sängerriege - auch wenn hier der Applaus ungerecht verteilt wird und die Sopranistin Maria Agresta neben dem Tenor Francesco Meli unverhältnismäßig belohnt – einem hervorragenden Orchester und einem grandiosen Dirigenten. Übrigens kann man Kritik ganz diskret am Ausgang loswerden: dort werden die ausgeteilten Bögen einer Publikumsbefragung eingesammelt.

Sabine Radermacher





Fotos: Lelli & Masotti