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Fakten zur Aufführung 

Stiffelio
(Giuseppe Verdi)
15. April 2012
(Premiere)

Teatro Regio di Parma


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Lasciatemi

Lasst mich. Lasst mich in Ruhe mit eurer vorgeschriebenen Lebensart, lasst mich in Ruhe mit eurem Vorschriftenbuch. Das hat doch mit dem wahren Leben nichts zu tun, versagt angesichts echter Gefühle. Das möchte man ohne Schwierigkeiten aus dieser Aufführung herauslesen. Aber Guy Montavon lässt nur bedingt Interpretationsspielräume zu. Ihm geht es viel mehr um das große, echte Gefühl, den Kampf zwischen Pflicht und Vergebung, Liebe und Verrat. Ganz große Oper eben.

Wir befinden uns im Teatro Regio di Parma, einem wunderschönen, historischen Aufführungsort, der noch in rotem Plüsch schwelgt, schamlos mit gold und weiß abgrenzt. Im Parkett die Sitze, die für Italiener abgemessen sind, klein, zierlich und vor allen Dingen schmal. Umringt von fünf Balkonetagen, allesamt in Logen aufgeteilt. Das ist pittoresk, das ist romantisch, und das spiegelt die jahrhundertealten Sehgewohnheiten der Italiener wider. Warum pünktlich kommen, wenn man eine Loge hat? Warum nicht mehr wichtige Neuigkeiten austauschen, bloß, weil die Musik begonnen hat? Mit dem Unterschied vielleicht, dass zwischen gestern und heute eine Demokratisierung stattgefunden hat, will sagen, auch im Parkett haben die Unsitten Einzug gehalten. Aber warum auch nach Pünktlichkeit streben? Das rührt doch allenfalls daher, dass das Orchester pünktlich nach Hause will. Schon die Uhr über der Bühne zeigt, dass hier ein anderer Zeittakt schlägt. Sie schaltet nur alle fünf Minuten um – was dazwischen geschieht: egal. Und ist es das nicht auch? Im Teatro geht es schließlich nicht darum, einen Zeitplan abzuarbeiten, sondern eine Oper zu zelebrieren. Das ist mit Aufwand verbunden, der oft in den engen Pausen gar nicht zu schaffen ist. Das Lokalfernsehen ist mit drei Kameras vertreten und interviewt in den Pausen ohne Unterbrechung Gäste. Die Honoratioren der Stadt müssen alle mal ins Bild. Dort sind sie schon bei der Ankunft gewesen, da sind sie nämlich gleich am Eingang in das Blitzlichtgewitter verschiedener Fotografen gelaufen. In die Menge mischen sich junge Damen, die sich durch eifrige Notizen auf Stenoblöcken zu erkennen geben. Das sind die Mitarbeiterinnen der Lokalpresse. Sie haben einiges zu notieren. Verdi ist 40 Kilometer vom Theater entfernt geboren, da wird der Parmeser ansich zum Verdi-Experten. Und jetzt kommt da ein Regisseur aus Deutschland, der ihnen eine adäquate Stiffelio-Inszenierung anbieten will. Wenn das nicht kritisch begleitet sein will, was dann?

Und es geht ja auch gleich gut los. Montavon will reduzieren. Er will für die Gefühle möglichst viel Platz schaffen. Betonfarbene Verschiebewände, die manchmal auch Häuserfassaden gleichen, umgeben den Bühnenraum. Ein langer Esstisch vervollständigt die Handlungsfläche. Aber es geht noch mehr weniger: Aus dem Personal macht der Generalintendant aus Erfurt Mormonen, und damit verschwindet der letzte Rest Farbe von der Bühne. Francesco Calcagnini, der ihn bei Bühne und Kostümen unterstützt, zieht das konsequent durch. Einzig Leuthold wird als Stiffelios Gegenspieler kontrapunktisch in Orange gekleidet. Selbst das Licht reduziert Montavon auf wenige Effekte. Es entsteht etwas, was das Publikum anfänglich irritiert. Man möchte förmlich das Ringen um Luft im Zuschauersaal hören, als der Eiserne Vorhang das erste Mal aufzieht. Aber Montavon erreicht, was er will. Die völlige Konzentration auf die Sängerdarsteller, das ganz große Gefühl im großen Raum. Es funktioniert, auch oder gerade aus italienischer Sicht.

Die große Stunde der Solisten schlägt. Die Stimme, die Yu Guanqun der Lina verleiht, wird immer wieder mit vehementem Arienapplaus bedacht. Gar langanhaltenden Applaus erhält Roberto Frontali für die große Arie des Stankar. George Andguladze schenkt Jorg, dem Minister, den das Leben tief gebeugt hat, einen Bass, der variationsreich an die Grenzen seines Volumens geht, ohne sie zu unterschreiten. Leuthold hat die Aufgabe, die Konflikte der anderen zu verdeutlichen, ohne sich selbst in den Vordergrund zu schieben. Das gelingt dem Tenor Gabriele Mangoni hervorragend. Roberto Aronica darf als Stiffelio währenddessen sein ganzes tenorales Können ausspielen. Was ihm ohne jeden Zweifel, im Gegenteil, indem er für jede Begeisterung im Publikum sorgt, gelingt. Er hat die Hauptrolle, er ist der Star des Abends, das passt.

Im Schlussbild ändert sich alles, und schon, wenn der Vorhang aufgeht, wird klar, damit hat Montavon gewonnen. An den Wänden hängen Bücher, an der Rampe ist ein überdimensionales Buch aufgeschlagen. Dahinter ordnen sich die Choristen ein, die jeweils hinter einem eigenen offenen Buch stehen. Hinter ihnen eine freischwebende Orgel, die den Klang der neu einsetzenden Orgel auch psychologisch noch einmal verstärkt. Während Stiffelio auf Vergebung besteht, bietet Montavon noch eine andere Lösung an: Er lässt über dem Chor Steine an Seilen herab, die statt der Vergebung benutzt werden könnten. Sie werden nicht. Ein großartiger Schachzug, der endgültig die Vorschriften von Büchern wie beispielsweise der Bibel oder dem Koran außer Kraft setzt. Bei so viel Sinngehalt ist dann auch der deutsche Zuschauer wieder ausgesöhnt.

Maßgeblichen Anteil daran hat der hauseigene Chor, der unter der Leitung von Martino Faggiani kraftvoll, transparent und präzise die musikalischen Ideen Verdis umsetzt. Das gelingt dem Orchester nur teilweise, und das liegt sicher an der Arbeitsweise von Andrea Battistoni. Italiener mögen darin die nötige emozionalità erkennen, jeder andere würde es vermutlich eher als Leistungssport bezeichnen. Sein Körper wiegt wild hin und her, der Kopf hat längst ein Eigenleben entwickelt und die Hände, nein, die Arme, vollführen ein wildes Wechselspiel. Das daraus eine eher zurückhaltende Spielweise des Orchesters resultiert, erscheint nur folgerichtig. Es bleibt eine Qualität, die durchaus hörenswert ist. Nur das Besondere, das verpufft im Schauspiel des Dirigenten.

Überhaupt nichts verpufft von der Wirkung des Abends. Das Publikum ist wild begeistert. Bravi-Rufe, die schon während des Abends zu hören sind, schwellen zu beträchtlicher Lautstärke an. In der örtlichen Presse wird am nächsten Tag zu lesen sein: „Ein Erfolg! Überzeugender kann man nicht sein. Die ruhmvolle Geschichte des Theaters ist heute Abend fortgesetzt worden.“ Montavon hat geschafft, was ihm nicht so viele Menschen (in Parma) zugetraut haben: Er hat den Auftakt zum Verdi-Festival bereitet, das im Herbst stattfinden wird. Für das deutsche Publikum aber muss gelten: Bei aller kultureller Unterschiedlichkeit muss man Parma im Terminplan berücksichtigen, wenn man Oper in allen Facetten kennen will.

Michael S. Zerban





Fotos: Roberto Ricci