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Fakten zur Aufführung 

DAS GROßE HEFT
(Sydney Corbett)
16. März 2013
(Uraufführung)

Theater Osnabrück


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Grausame Wahrheiten mit bestechender Musik

Zwei namenlose Jungen werden während eines Krieges zur Großmutter gebracht, die von den Dorfbewohnern als „Hexe“ bezeichnet wird. Die alte Frau behandelt sie kalt und hartherzig. Die Jungen versuchen sich nun ihrerseits durch „Übungen in Grausamkeit“ abzuhärten. Viele Erlebnisse schreiben sie in Form von erschütternd ehrlichen Aufsätzen in ein altes Schulheft. Gewalt, pädophiler sexueller Missbrauch und sogar Mord, aber auch Kritik am üblen Zustand der Gesellschaft des Dorfes während des Krieges machen nun das Leben der Jungen und den Inhalt der gut anderthalb Stunden langen Oper aus.

Der Oper Corbetts liegt Agota Kristofs gleichnamiger Roman zugrunde. Die Geschichte ist also fiktiv, könnte aber trotzdem in Kriegszeiten genau so stattfinden. Komponist Corbett wählt dunkle Farben, verzichtet auf Wohlklang und große Klänge. Stattdessen verklingen häufig ein paar solistische Töne eines einzelnen Instruments scheinbar im harmonischen Nichts.

Alexander May hat sich in seiner Inszenierung auf das wirklich Notwenige beschränkt, und so wirken die Personen schattenrisshaft in der Enge ihrer gnadenlosen Welt. Das Entsetzen über die Lebensumstände und die Erlebnisse der Jungen kommt deshalb sehr direkt auf die Bühne. Etienne Pluss hat ein funktionales Bühnenbild geschaffen, das von einem riesigen Heft dominiert wird. Dieses die Rückwand der Bühne ausfüllende Heft ist aufklappbar, von innen mit beleuchteten Rahmen versehen und dient als Tür, Projektionsfläche kurzer Videos sowie einzelner Worte und zeigt den Beginn der Akte mit römischen Ziffern. Die Videos Bert Zanders sind überwiegend schwarz-weiß gehalten - nur zum Tod der Mutter sieht man raumfüllend leuchtend rotes Theaterblut über das Gesicht einer Frau laufen. Ein paar Stühle, eine Lampe und weiße Stoffbahnen als Badewanne vervollständigen das Bild.

Die beiden Jungen, mit Zottelperücken und halblangen Hosen, sind von Marie-Christine Haase und Susann Vent mit Sopran und Alt besetzt. Saubere Höhen, warme Mittellagen und fast knabenhafter, betont simpler Ausdruck, gefördert durch die schauspielerisch überzeugende Darstellung der beiden Sängerinnen, sind gut intoniert und schön phrasiert. Kammersängerin Eva Gilhofer, Mitte 70, bringt eine Großmutter auf die Bühne, die allein schon die Reise nach Osnabrück wert ist. Technisch sauber, routiniert und mit viel Präsenz, aber stimmlich deutlich mit altersgemäß etwas rauen Tönen, überzeugt sie restlos als harte Alte. Und lässt trotzdem, denn sie ist sich selbst gegenüber ebenso hart wie zu ihrer Umwelt, Mitgefühl aufkommen. Almerija Delic wirkt als Mutter und als Magd lebensfroh, strahlt stimmlich und passt gut ins Ensemble. Der Schuster, von Genadijus Bergorulko gegeben, klingt ein wenig farblos, was jedoch sehr zu seiner eingeschüchterten Rolle passt. Jan Friedrich Eggers schwadroniert als Pfarrer und Offizier, onduliert oder mit Föhnfrisur, auf und ab, zieht sich hinter dem Gazevorhang sogar aus und überzeugt restlos als latent pädophiler Schönling. Und singt seine Partien sehr gut. Mark Hamann gibt den Polizisten und den Vater, sicher gesungen und kein bisschen heldenhaft. Ariane Ernesti als „Hasenscharte“ strahlt mädchenhaft, entwickelt viel Charme und verleiht diesem bemitleidenswerten verunstalteten Mädchen, das sich mit Bettelei und Prostitution durchschlägt, viel Leben. Sprecherin Marie Bauer hat Passagen aus dem Roman gelesen, die während der Oper als Toneinspielung für zusätzliche Schauder sorgen.

Markus Lafleur hat die Chöre einstudiert und lässt sowohl den Kinderchor, dessen Sängerinnen allerdings doch schon recht jugendlich wirken, sowie den Opernchor sauber auf den Punkt kommen.

Dirigent Andreas Hotz lässt die inhaltliche sperrige, zugleich musikalisch faszinierende Oper störungsfrei ablaufen, sorgt für Fluss und genau ausgewogenen Klang. Weder zu leise, noch zu laut, kein bisschen zu hart oder zu weich präsentiert sich jeder gesungene und gespielte Ton. Das Osnabrücker Symphonieorchester ist der hervorragende Partner im Graben.

Komponist Sydney Corbett, bei den Proben und der Uraufführung anwesend, war sichtlich erfreut, dass das Publikum seine neue Oper mit so viel Beifall feiert. Immerhin ist es ihm als Vater mehrerer Söhne nicht immer leicht gefallen, so Corbett, diesen Roman über die Verrohung zweier Kinder zu lesen und in Musiktheater umzusetzen. So erschütternd die Geschichte, so finster die Musik, so zeitlos das Elend der Kinder - diese Inszenierung ist in jedem Falle einen Besuch wert.

Heike Eickhoff





Fotos: Marek Kruszewski