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Fakten zur Aufführung 

ANATEVKA (FIDDLER ON THE ROOF)
(Jerry Bock)
15. Juni 2012
(Premiere am 28. April 2012)

Theater Osnabrück

Points of Honor                      

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Revolution oder Liebe

Wenn man mit der Vorbereitung einer Revolution sehr beschäftigt ist, hat man keine Zeit für die Liebe – einerseits. Aber man kann ja trotzdem die rote Fahne aus dem Fenster hängen und im Zimmer dahinter nach seiner Liebsten schauen – andererseits. Und Tevje hat natürlich für seine Töchter längst die passenden Ehemänner gefunden – einerseits; er entdeckt aber doch, dass die von den Töchtern bevorzugten, der Schneider Mottel oder der windige Student und Berufsrevolutionär Perchik, ehrliche Kerle sind – andererseits. Und dass Chava ihm ausgerechnet einen Christen ins Haus schleppt, geht ja schon überhaupt nicht – einerseits; aber an einen Gott glaubt er ja doch wohl - andererseits. Und natürlich sehen die Schriften keinen Segen für eine Nähmaschine vor – einerseits; aber sie ist ein nützliches Gerät und wird ihre Familie ernähren, und der Rabbi hat Phantasie – andererseits.

Immer wieder pendelt die Handlung dieses witzig-skurrilen Stückes über das Leben in dem ukrainischen Schtetl, dem jüdischen Dorf Anatevka zwischen „einerseits – andererseits“ und zeugt auf überraschende Weise von der Flexibilität, der Schlitzohrigkeit und dem Humor des jüdischen Glaubens und der Menschen. Auch wenn das Leben dieser Gemeinde nach den strengen Regeln der religiösen Vorschriften verläuft und manchem Beobachter fragendes Nachdenken abverlangt, zeigen die Menschen, wie sie mit viel Humor und Phantasie in dieser Religion flexibel leben. Daraus entwickeln sich zahlreiche urkomische, überraschende, manchmal naiv wirkende Situationen, die vom Ensemble leichtfüßig und locker gespielt werden. Selbst bei den Begegnungen mit den drohenden russischen Besatzern gibt es Gelegenheiten für ein  Augenzwinkern, das Seitenwege unter dem harten Regiment andeutet.

Adriana Altaras, mit eigener Bühnenerfahrung in der Rolle der Golde, setzt dieses Spiel in eine schon etwas altersschwache Synagoge, die mal als Innenraum, mal als dörflicher Platz ohne Probleme umgedeutet wird und damit geschickt alle Umbauten überflüssig macht. Leichte Veränderungen der Synagoge kommentieren beiläufig die wechselnden Situationen und Stimmungen der Handlung, und als im Schlussbild das sternförmige Fenster über dem Eingang plötzlich zerbrochen ist, ahnt jeder, was sich damit ankündigt. Die Kostüme von Yashi Tabassomi spiegeln stilsicher die Zeit um 1900 und das Leben in einem jüdischen Dorf auf dem Lande wider.

Pavel Czekala, der kurzfristig für den erkrankten Thomas Schneider einspringen kann, überzeugt mit einem stimmlich und darstellerisch die Rolle herrlich ausspielenden Tevje, der vom säuselnden  Verführer über den in der Tradition standfesten Papa bis zum polternden „Herr im Hause“ alle Nuancen authentisch auf die Bühne bringt. Spezialität sind seine Gespräche mit Gott, in denen er sich rechtfertigt, Rat sucht oder auch salopp-pragmatisch mit dem Herrn über einige Erleichterungen oder Vorteile zu verhandeln sucht - herrliche Monologe voller Komik und Selbstironie. Angelika Bartsch steht ihm in der Golde mit etwas leiseren Tönen in nichts nach. Alle anderen Rollen sind bestens besetzt und zeigen  in ihren Figuren mit viel Spielwitz das Leben rund um die Synagoge und in ihr.

Unter der Leitung von Till Drömann spielen Musiker des Osnabrücker Symphonieorchesters in kleiner Besetzung die einschlägigen Songs ebenso wie Klezmerklänge oder volkstümliche Melodien und sorgen musikalisch für besinnliche wie ausgelassene Stimmung. Die Choreinstudierung von Holger Krause und Markus Lafleur kann auf erfahrene Sänger zurückgreifen, der volle, kräftige Klang des Chores unterstützt die  lebensfrohe Stimmung  im Dorf Anatevka.

Als in der Schlussszene der Evakuierungsbefehl des Zaren eintrifft und das Dorf sich plötzlich ihrem früheren Dorfpolizisten, nun ausgestattet mit neuer Autorität und zusätzlichen Sternen, gegenüber sieht, bleibt keine andere Wahl als zu packen – einerseits. Ob es auch hier ein „andererseits“ gibt, erfahren die Zuschauer nicht, denn das Dorf und seine Bewohner werden in alle Winde zerstreut…

Den Fiddler on the roof spielt Annika Wahlström erst auf dem Dach hinter der Synagoge, dann  im Vordergrund des Schlussbildes. Zurückhaltend und allmählich verklingend ertönt eine sentimental-traurige Weise, deren Schlusston fehlt.

Eine stimmungsvolle, mit viel Tempo und Spielwitz gespielte Aufführung wird von den Zuschauern mit rauschendem, lang anhaltendem Beifall gefeiert, der gleichermaßen der Regie, den Darstellern wie den Musikern gilt - ein gelungener Abend.

Horst Dichanz

 



Fotos: Jörg Landsberg