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Fakten zur Aufführung 

FRÜHLINGS ERWACHEN
(nach Frank Wedekind)
9. März 2012
(Premiere)

Theater Oberhausen


Points of Honor                      

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Vor der Premiere

Wie macht man ein Stück für Jugendliche, so dass es authentisch wird? Karsten Dahlem zeigt eindrucksvoll, dass er es drauf hat. Hier erzählt er davon (5'16).

 

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Neues Kino im alten Haus der Jugend

Das Haus der Jugend in Alt-Oberhausen ist zu alt, um noch weiter zu leben. Sagen die Stadtoberen. Schimmel im Keller, Asbest im Zement und die Belüftungsanlage wolle man lieber erst gar nicht mehr in Betrieb nehmen, weil man nicht wisse, was da für Partikel in den Raum geblasen werden. Angesichts der Haushaltslage hilft da nur noch die Abrissbirne, sagt die Stadtverwaltung, an Sanierung sei nicht zu denken. Einer der drei (!) Jugendtreffs von Oberhausen entfällt damit. Die Jugend protestiert, die Alten wissen es besser. Ein Zufall nur, sagt die Stadtverwaltung auch, dass sich das Grundstück im Verbund mit dem daneben liegenden Sportplatz viel profitabler verkaufen ließe. In diese Situation des Werdens und Vergehens verlegt Karsten Dahlem seine ganz eigene Version von Frank Wedekinds Frühlings Erwachen. Ältere Zuschauer besuchen so ein Stück lieber nicht, schließlich muss es ja auch mal sein Gutes haben, älter geworden zu sein. Und einer der wenigen Vorteile ist ganz sicher, die Pubertät überstanden zu haben. Warum sich also noch einmal mit den schlimmsten Tagen seiner Jugend auseinander setzen? Eben. Weil Dahlem das Stück inszeniert und in die heutige Zeit überträgt. Dahlem und seine Bühnenbildnerin Inga Timm beziehen das gesamte Gebäude einschließlich der Außenanlagen in ihre Performance ein. Erfahrungsskeptiker horchen jetzt auf und wissen, dass das nichts werden kann. Falsch! Stationentheater geht, wenn man es intelligent macht. Und die beiden lösen das sehr intelligent. Die Handlung setzt in der Aula mit Wendlas Geburtstagsparty ein, wird einigermaßen holperfrei auf zwei Gruppenräume aufgeteilt, findet den absoluten Höhepunkt im Atrium, um die Katharsis endlich in der Aula stattfinden zu lassen. Im letzten „Aufzug“ werden in der Aula die Jalousien geöffnet und geben den Blick auf den „Friedhof“ frei, wo ein Grab ausgehoben wird und ein Geist erscheint. Sowohl bei der Bühne als auch bei den Requisiten wird mit kleinem Geld, aber absolut eindrucksvoll gearbeitet. Aus Biertischen und -bänken entstehen nicht nur der erste und zweite Rang, sondern sie bilden auch eine zusätzliche Laufstegbühne. Eine Leinwand, ein Monitor, viele Bierkisten, die aus dem Product Placement eine augenfällige Reklame machen, und ein paar weitere Kleinigkeiten reichen, um den Darstellern ein Umfeld zu schaffen, in dem sie sich exzessiv ausleben können.

Wer ein Stück für Jugendliche auf die Bühne bringen will, läuft immer Gefahr, sich gerade bei den Jugendlichen lächerlich zu machen. Bei Dahlem und Timm besteht diese Gefahr nicht. Sie haben den Jugendlichen so intensiv und genau aufs Maul geschaut, dass sich hier jeder wiedererkennen kann. Eingebunden werden dabei verschiedene Medien. Einige Szenen werden in die Toilettenräume verlegt – der Zuschauer verfolgt sie über den Monitor mit. Einspielfilme kommentierender Jugendlicher über den ständig steigenden Druck in der Schule schaffen Authentizität. Und wenn Moritz‘ Vater eine Straßenbefragung zur Selbsttötung seines Sohnes durchführt, hat man bereits so viele Gänsehäute auf dem Rücken verspürt, dass man die hier gar nicht mehr bemerkt, weil man sich gerade verschämt die Tränen aus den Augenwinkeln wischt. Dahlem setzt Maßstäbe, weil er Medien nicht als nettes Zusatzbonbon, sondern als existenziellen Bestandteil seiner Dramaturgie einsetzt.

Ein Regisseur ist nichts ohne seine Darsteller. Die haben sich so intensiv in ihre Rollen eingearbeitet, dass die Sitznachbarin fragt: „Sind das Laien oder Schauspieler?“ Keiner, der nicht einen Sohn, Enkel, Neffen hat, bei dem er die Rotzigkeit, die Fremdsprachigkeit, die mit pubertärer Coolness überpinselte Unsicherheit nicht kennt, die die Akteure hier zur Schau stellen. Nora Buzalka als Martha, Manja Kuhl als Ilse und Elisabeth Wolle als „Prinzessin“ Wendla begeistern als 14-Jährige, die die Welt noch lange nicht verstehen, aber alles im Griff haben wollen. Anna Polke ist die idealtypische, alleinerziehende Mutter, die ihrer Tochter alle Liebe entgegenbringen will, ohne sie auch nur im Ansatz zu verstehen. Frau Bergmann hat sich unter dem Druck der Wirklichkeit längst viel zu weit von einer Zeit der drängenden Hormone, des Glaubens an die große Liebe und der Sehnsucht nach Nähe entfernt, als dass sie Tochter Wendla auch nur ansatzweise verstehen könnte. Gibt es noch eine Moral? Gibt es irgendetwas, was Bestand hat auf dieser Welt? Sergej Lubic kennt die Antwort. Nein, sagt er als Melchior, der sich zwar auch in Liebesdingen versucht, sich in einer nihilistischen Philosophie besser aufgehoben glaubt und letztlich nur dem Suizid versagt, weil auch das ihn keiner echten Lösung seiner Konflikte näher bringt. Vater Stiefler ist nach dem Freitod seines Sohnes gebrochen – und fasziniert in den Filmeinspielungen. Sein Sohn Moritz schlägt alle. Unscheinbar zu Beginn, kommt seine große Stunde in exakt dem Moment, als er sagt: „Gefährdet … Versetzung – gefährdet.“ Wer bis hierhin noch nicht vollends begeistert ist, lässt sich fortan nur noch von der düsteren Verzweiflung des pubertierenden Moritz fortspülen. Eike Weinreich spielt mit einer natürlichen Dramatik, die einem bis ins Mark fährt. Wie überflüssig das Theaterblut, das ins Atrium spritzt! Auch ohne das wäre in diesem Moment kein Atemzug mehr „im Theater“ zu hören gewesen, als der Schuss fällt. Wie betäubt wechselt das Publikum wieder in die Aula, vorbei an dem leblosen Körper des Menschen, der dem Druck der Erwartungen an ihn nicht standhalten konnte. Seine Pubertät ist vorzeitig beendet.

Die Musik an diesem Abend kommt vom Band, wird aber dramaturgisch bis ins i-Tüpfelchen gekonnt eingesetzt. Gregor Praml hat sie eigens für das Stück – großartig – komponiert. Er konzentriert sich auf den Kontrabass und Gitarre, schafft rhythmisierende Klänge, die nicht nur die Dynamik des Stücks vorantreiben, sondern auch mindestens zwei Songs, die das Zeug haben, sich zu Hits zu entwickeln.

Hätte Wedekind die Aufführung gesehen, er hätte darauf bestanden, Dahlem danach auf die Schulter zu klopfen. Diese Auffassung teilt auch das Publikum, das begeistert minutenlang applaudiert, allerdings auf den Bänken festgenagelt erscheint. Wie man das richtig macht, lernt man nach der Pubertät. Wenn die denn endlich überwunden ist.

Michael S. Zerban







Fotos: Axel J. Scherer