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Fakten zur Aufführung 

CABARET
(John Kander)
26. Oktober 2012
(Premiere)

Theater Oberhausen


Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

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Vor der Premiere


Roland Spohr und Otto Beatus erzählen über den intensiven Entstehungsprozess des Musicals (6'11).


 

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Am Vorabend deutschen Elends

Berlin, 1929. Große Teile der deutschen Bevölkerung haben noch die Weimarer Republik mit der anschließenden Inflation in den Knochen, die Weltwirtschaftskrise beginnt. An eine Zukunft glaubt so recht keiner mehr. In der Hauptstadt hat der Tanz auf dem brodelnden Vulkan begonnen. Nachtklubs, Drogen und Alkohol haben Hochkonjunktur. Spaß haben, bis der Arzt kommt, so formuliert man das heute. Das Gemeinwohl hat seine Bedeutung verloren, die Menschen suchen ihr Glück im Kleinen und sind doch zum Scheitern verurteilt. So auch Cliff Bradshaw, ein junger Amerikaner, der am letzten Tag des Jahres 1929 nach Berlin kommt, um Lebenserfahrung zu sammeln und herauszufinden, ob er ein Schriftsteller ist. Noch auf der Anreise lernt er Ernst Ludwig kennen, einen dieser „Hellsichtigen“, die schon früh das Potenzial Hitlers erkennen. Ludwig nimmt Bradshaw mit in seinen eigenen Mikrokosmos, und so landet Bradshaw nicht nur in der Pension von Fräulein Schneider, sondern auch zur Silvesterfeier im Kit-Kat-Club. Dort lernt er die attraktive Sängerin Sally Bowles kennen und beginnt mit ihr eine stürmische Affäre.

1972 verfilmt Bob Fosse die dann folgenden Ereignisse mit Liza Minelli und schafft damit einen Welterfolg namens Cabaret. Bis heute zählt das Musical zu den Bühnenklassikern, wenn auch die meisten Inszenierungen eher mehr oder minder gute Abklatsche des Films sind. Jetzt hat sich Regisseur Roland Spohr des Stoffs angenommen und ihn gemeinsam mit dem Musikalischen Leiter des Theaters Oberhausen, Otto Beatus, ebendort auf die Bühne gebracht. Nach einer möglichen Entzauberung und der Suche nach den Parallelen zur gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation steht Spohr nicht der Sinn. Er möchte noch einmal der, ja, gruseligen Atmosphäre jener Tage vor Hitlers Machtergreifung nachspüren. Auf Kopien verzichtet er, zu sehr reizt ihn, ein eigenständiges Werk zu schaffen. Und es gelingt ihm. Manuela Freigang schafft einen komplett neuen Bühnenraum. Die Musiker verschwinden in den Hintergrund, über den Graben kommt ein Steg, rechts und links davon die Zimmer der Pension Schneider. Darüber schweben Neonröhren-Schriftzüge, die situationsbezogen aufleuchten. Vermutlich steckt auch dahinter ein tieferer Sinn. Den vermag der Zuschauer aber in seiner Komplexität nicht zu erfassen. Zwischenzeitlich verschwinden die Neonröhren, und es wird stattdessen eine Reklame-Schriftzug, wie wir ihn von Hausdächern kennen, herabgelassen, der nur von hinten zu sehen ist und auch schon einige Buchstaben verloren hat. Der steht dann sinnbildlich für die Szenen „über den Dächern Berlins“. Der Aufbau ist extrem durchdacht, so dass kleinste Änderungen auch ohne große Erklärungen neue Handlungsräume schaffen. Esther Bialas hat rollenbezogene Kostüme gefunden. Herausragend der feine Zwirn des Ernst Ludwig. Kein derber Gestapo-Mantel, stattdessen hellgrauer Anzug mit Gamaschen und ein bodenlanger Staubmantel. Hier ist kein Straßenkämpfer, sondern ein Schreibtischtäter auf der Bühne unterwegs. Wunderbar typisierend, wenn nicht gar persiflierend überzogen die übrigen Kostüme. Nur ein Gefühl von Erotik will sich nicht einstellen. Aber vielleicht ist das ja auch gewollt. Alexander Eck und Alexandra Sommerkorn arbeiten viel mit Verfolgern, finden aber kein rechtes Gesamtkonzept, und so wirken manche Lichtreflexe ein wenig einfallslos.

Im richtigen Licht präsentiert sich ausnahmslos das Ensemble. Allen voran Vera Bolten als Sally Bowles. Bewusst hat Spohr eine Musicaldarstellerin ausgewählt und recht daran getan. Unglaubliche Farben in der Stimme, Lagenwechsel als leichteste Übung und in den Höhen ebenso sauber wie in der Mittellage, spielt Bolten die Sally Bowles als eigene Figur, die kaum etwas mit der Kopie einer Liza Minelli zu tun hat. Complimenti. Berückend die Duette zwischen Susanne Burkhard als Fräulein Schneider und einem unglaublich überzeugenden Klaus Zwick als Jude Schultz. Die beiden lassen sich Raum für die kleinen Gesten, verzichten dabei nicht auf leisen Humor, ohne die Dramatik der Beziehung außer Acht zu lassen. Derb hingegen wird das Fräulein Kost von Anja Schweitzer mit ihren tumben Matrosen Marek Jera und Pascal Nöldner dargestellt. Das ist gewollt und macht Spaß. Beatus und Spohr haben sich eine hohe musikalische Qualität auf die Fahnen geschrieben, und Jürgen Sarkiss ist als Conferencier beredtes Beispiel dafür, dass sie das Versprechen eingelöst haben. Peter Waros spielt den Ernst Ludwig absolut überzeugend als künftigen SS-Offizier, der in seine Rolle gerade hineinwächst. Die Kit-Kat-Girls Julia Breier, Ann-Marie Lone Gindner und Maria-Lena Hecking werden ihren Rollen gerecht, bleiben aber im Schatten der Protagonisten.

Beatus hat die Musik, basierend auf der Berliner Fassung, neu arrangiert. In einer Mischung aus Tom Waits, Kurt Weill und zeitgenössischer Musik führt er die amerikanisierte Filmmusik wieder auf das Wesentliche zurück. Dabei unterstützen ihn Volker Kamp, Stefan Lammert, Axel Lindner, Jörn Wegmann und Melanie Werner konzentriert an den verschiedensten Instrumenten, um die mit Microport ausgestatteten Sängerinnen und Sänger zu tragen, anstatt sie zu überspielen. Das ist großartig gelungen.

Auch wenn die zweite Hälfte etwas gestückelt wirkt, ist das Publikum zufrieden. Zwar gibt es Liedapplaus und zum Schluss einige stehende Ovationen, aber insgesamt klingt der Beifall doch eher müde. Vielleicht war es eine anstrengende Arbeitswoche und an einem Freitagabend mit Novemberwetter nicht die rechte Feierlaune. Der Leistung dieses Abends wird das jedenfalls nicht gerecht.

Michael S. Zerban

Fotos: Klaus Fröhlich