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Fakten zur Aufführung 

CINDERELLA
(Goyo Montero)
21. Dezember 2013
(Uraufführung)

Staatstheater Nürnberg


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Musik

Tanz

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Spannende Erlösung aus der Isolation

Aschenputtel ist seit den Märchen der Gebrüder Grimm ein Synonym für ein armes, unterdrücktes Mädchen mit frommer Seele, das dank dieser inneren Qualität einen Prinzen findet. Dieser Traum von der Erhöhung und Befreiung aus den Niederungen gesellschaftlicher Ächtung geht leider fast nie in Erfüllung. Goyo Montero, der viel gerühmte Nürnberger Ballettchef, hat nun mit seiner uraufgeführten Choreografie von Cinderella zur Musik von Sergej Prokofjew im Staatstheater Nürnberg einen anderen, sehr überzeugenden Ansatz gefunden: Hier wird ein Kind aus bewusst egoistischen Motiven in Isolation gehalten wie ein Tier; aus dieser freudlosen Existenz wird es befreit durch die Begegnung mit einem Menschen, der sich ebenso in Zwängen, allerdings wegen seiner hervorgehobenen gesellschaftlichen Position, befindet. Die Errettung des Mädchens aus seiner grausamen Lage wird unterstützt durch die Einflüsse der Natur, verkörpert durch Tauben, angedeutet auch durch die Reliefs von Baum-Zweigen auf dem Bühnen-Hintergrund.

Dieser symbolische Ansatz steckt schon in der Märchen-Vorlage. Doch Montero verstärkt ihn, stilisiert ihn noch, lässt Überflüssiges wie den Schuh weg und macht alles dadurch allgemeingültig. Parallelen ergeben sich zu heute oft diskutierten Fällen wie etwa dem Schicksal Kaspar Hausers. Bei Montero wird das Ganze folgendermaßen erzählt: In einem Prolog sieht der Zuschauer eine glückliche Familie, Vater, Mutter, Kind. In der eigentlichen Handlung nach dem Tod der Mutter führt die Stiefmutter zusammen mit ihren erwachsenen Töchtern ein böses Regiment; der Vater sitzt machtlos im Rollstuhl, das kleine Mädchen wird weggesperrt in ein schmutziges, enges Verlies; in diesem Geviert kann es sich kaum entwickeln, sich kaum bewegen. Nur manchmal darf es heraus, wird wie ein wildes Tier gequält von seinen Stiefgeschwistern und deren Mutter. Als diese zu einem Ball eingeladen werden, stört Cinderella die Vorbereitungen, weil sie auch mit will. Dafür wird sie bestraft, von der Stiefmutter wie ein Hund an der Leine geführt und geschlagen und schließlich wieder eingesperrt. Da aber kommen die Tauben aus dem Taubenhaus, trösten sie, zeigen ihr ein weißes Kleid. Derweil träumt der Prinz von einem weiblichen Wesen; doch das Bild löst sich auf. Das verstört ihn. Beim Ball erscheinen die Stiefmutter und ihre Töchter und belästigen den Prinzen durch ihre Aufdringlichkeit. Als Cinderella im schlichten Kleid ebenfalls auftaucht, holt sie der Prinz zum Tanz. Die Mutter und ihre Töchter greifen ein und sperren sie wieder weg. Doch der Prinz kann sie nicht vergessen, wird von einer Taube zu ihr geführt. Aber erst als sich der Vater durch einen Schrei aus seiner Erstarrung löst und damit auf das Versteck hinweist, entdeckt der Prinz das nackte Mädchen unter der Asche, zieht ihm seinen goldenen Rock an und schreitet mit Cinderella ins Licht; Mutter und Töchter bleiben im Dunkel zurück.

Dieses neue Tanztheater Monteros harmoniert bestens mit der Ballettmusik Prokofjews, die allerdings damals für den Choreografen Sacharow konzipiert war. Der Komponist hatte zwischen 1940 und 1945 in mehreren Etappen die Musik dafür geschrieben; sie kennzeichnet mit verschiedenartigen Tänzen Personen und Situationen und erfasst so die besonderen Stimmungen und Charaktere, ironisiert auch fast schadenfroh die nutzlosen Bestrebungen der Stieftöchter um eine Heirat oder lässt mit idyllischen Klängen Träume oder Liebesgefühle nachempfinden. Auch Geheimnisvolles oder heftig Aggressives wird durch die Musik illustriert. Vor allem dank der hervorragenden Bläser der Staatskapelle Nürnberg unter der Stabführung von Gábor Káli ist das Ballett auch musikalisch ein Genuss; nur den Streichern hätte man ab und zu doch eine sorgsamere Intonation gewünscht. Aber ohnehin ist das Auge gebannt vom Geschehen auf der Bühne.

Die erscheint ganz schlicht, dunkel, schwarz-grau; aber das dezent strukturierte Bühnenbild von Verena Hemmerlein mit seinen verschiebbaren, ineinander gefügten Elementen, die sich nach hinten wie Tore entweder perspektivisch weiten oder nach vorne verengen können um die Mitte, das enge, hell erleuchtete Viereck des Verlieses von Cinderella, eröffnet einen Blick in die Tiefen menschlicher Grausamkeit. Eindrucksvoll sind dabei die Lichtwechsel von Olaf Lundt, etwa wenn die Asche stäubt, wenn es von oben regnet, wenn die Paare beim Tanz akzentuiert werden. Verschwommene Videobilder deuten den Traum des Prinzen an. Montero lässt in den Ballszenen Romantisches ahnen durch die pastellfarbenen, fein abgestuften Kostüme der Hofdamen, und mit den transparenten Stoffen zusammen ergibt sich da ein fast unwirklicher, leicht schwebender Effekt. Diese helle Kleidung kontrastiert mit dem düsteren Hintergrund, die kräftigeren Lilatöne der Kostüme aber von Stiefmutter und Stiefschwestern heben diese Gruppe von den Übrigen ab. Angelo Alberto hat lediglich den Prinzen mit Weiß und Gold ausgestattet. Cinderella wirkt dagegen fast nackt, fleischfarben, wie ein animalisches Wesen, eingeschnürt in ein Korsett, das an Frida Kahlo erinnert.

Montero benutzt für sein Handlungsballett auch Pantomimisches, wenn er erzählt oder schildert, setzt oft die Hände signifikant ein. Viele der Tanzbewegungen sind von ausdrucksstarker Kraft getragen, oft sogar ein wenig akrobatisch. Das Ensemble beeindruckt durch seine Synchronität, und trotz der stets präsenten Körperspannung besitzt alles eine große Leichtigkeit, etwa in Sprüngen oder Drehungen. Für die Hebungen, die Pas de deux oder trois hat sich Montero sehr viel Neues, Überraschendes einfallen lassen. Da findet sich nichts, was nur ästhetisch oder artifiziell wirken soll, alles ist durchdrungen von innerem Aussagewillen. Gerade den Szenen, als der Prinz und Cinderella ihre Liebe entdecken, haftet nichts Kitschiges oder Gefühlsseliges an. Alles wirkt homogen, geschmeidig. Zwar erinnert Montero in den Ball-Formationen an „klassische“ Choreografien, doch er löst diese Bilder schnell wieder auf. Alles aber lebt von der bravourösen Leistung von Sayaka Kado als bemitleidenswerte Cinderella. Die klein gewachsene, muskulöse Tänzerin gibt sie anfangs als wildes, tierisches Wesen mit offenen, langen Haaren, auf allen Vieren herumkrabbelnd, laufend, kriechend, sich wälzend; mit heftigen Bewegungen gegen die Wände oder kopfüber scheint sie die Enge ihres Verlieses zu erforschen. Immer wieder verkrümmt sie sich, verschließt sich oder entfaltet sich ungelenk wie in einem animalischen Trieb nach Freiheit. Die grauen, geheimnisvollen Vögel, die Tauben, unterstützen sie dabei. Erst im Tanz mit dem Prinzen, nun im schlichten Kleid mit Hochsteckfrisur, findet sie, allerdings zögernd, zu aufrechter Haltung. Endlich, nach erneuter Erniedrigung, wird aus Cinderella eine junge Frau. Denn der Prinz, ein hübscher blonder Mann, Max Zachrisson, hat ihr sein goldfarbenes Jackett übergestreift und so ihre Blöße bedeckt; er zeigt ihr sein Inneres, sie ist dadurch geschützt. Ein geschickter Zug der Choreografie ist es auch, dass Montero die „bösen“ Frauen mit Männern besetzt hat. So tanzt der groß gewachsene Carlos Lázaro mit weiten, exakt abgezirkelten Bewegungen die furchterregende Stiefmutter als beeindruckend schöne, kalte Hexe. Die beiden Schwestern, Saúl Vega und Oscar Alonso, wirken oft geradezu grotesk, wenn sie sich um Grazie bemühen. Zwar fordern sie mit übertriebenen Verrenkungen zum Lachen heraus, aber das ist bitter angesichts ihrer sadistischen Übergriffe Cinderella gegenüber. Am Schluss verfallen die drei Bösen der Rache der Vögel, liegen ineinander verkeilt am Boden, während die Guten dem verheißungsvollen Licht entgegen schreiten.

Das Publikum im ausverkauften Nürnberger Opernhaus feiert bei der Premiere den Schöpfer und alle Akteure dieses Ballett-Märchens begeistert, laut jubelnd, mit vielen Vorhängen. Wieder ein rundum geglückter Ballettabend des mittlerweile international bestens renommierten Goyo Montero.

Renate Freyeisen

 

Fotos: Jesús Vallinas