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Fakten zur Aufführung 

WERTHER
(Jules Massenet)
15. März 2014

Live-Übertragung aus der Metropolitan Opera New York

Cineplex Münster


Points of Honor                      

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Tränenschleier

Komm darüber hinweg“ möchte Jonas Kaufmann am liebsten seinem Charakter Werther zurufen, gesteht er im Interview. Werther hat sich nach einem glücklichen Abend unglücklich in die schöne Charlotte verliebt. Die hat aber ihrer Mutter in der Todesstunde geschworen, Albert zu heiraten. Im vierten Akt beendet Werther sein Leben und seinen verzweifelten Liebeskummer mit der Pistole. Jules Massenet hat Goethes Briefroman in eine düster-romantische Oper verwandelt, ihr nach Wagners Vorbild einprägende Leitmotive, einen wunderschönen, musikalischen Fluss gegeben. Fast scheint es so, als hätte Massenet seine ganz persönliche Antwort auf Wagners Tristan geschrieben. Wer diese Oper bislang nicht auf dem Radar hat, der wird bei der Live-Übertragung aus der Metropolitan Opera eiskalt überrascht. Denn der Werther gehört zu den intensivsten und musikalisch hochwertigsten Aufführungen, die im Laufe der Übertragungen bisher gezeigt wurden.

Zum Vorspiel spielt sich auf der Bühne eine Schnittstelle im Leben einer Familie ab. Während des Familienbeisammenseins vor dem Weihnachtsbaum bricht die Mutter tot zusammen, als man ansetzt, Weihnachtslieder zu singen. Sie wird zu Grabe getragen, die älteste Tochter übernimmt die Aufsicht über die anderen Kinder. Der Verlust der Mutter ist vor allem im ersten Akt greifbar. Regisseur Richard Eyre setzt die wenigen Ereignisse in der Handlung so plausibel um, dass er innere Vorgänge bei den Zuschauern in Gang setzt. Man kann mitfühlen, nicht nur zuschauen. Die Bühne von Rob Howell ist ein Raum mit einem eigenen Leben, der sich vor allem im ersten Akt schnell wandeln kann. Die Videos von Wendall Harrington geben dem Ganzen noch mehr Suggestivkraft. Dass Charlotte und Werther sich auf einem Ball näher kommen, spielt sich eigentlich nicht auf der Bühne ab. Eine andere Lichteinstellung, ein paar Requisiten ausgetauscht, ein paar verschobene Wände und Bodenplatten – und schon stehen Charlotte und Werther in schönster Abendgarderobe in einem Ballsaal, wo sich passend zum musikalisch angedeuteten Walzer die Decke über den Köpfen dreht. Alles Video natürlich, auch der grüne Wald mit Bächlein und Brücke, der irgendwo schön kitschig ist, und doch nur das übermäßige Empfinden Werthers reflektiert. Die Harmonie des Frühlingstraums, die er im dritten Akt im großen, detailliert ausgestatteten Salon Alberts besingt. Und wie dieser Salon sich auflöst, um der grauen Kammer Werthers Platz zu machen, die sich wie eine düstere Vorstellung Charlottes nach vorne schiebt, das ist ein weiteres Kunststück dieser Bühne. Howell hat nicht nur sie, sondern auch die schönen klassischen Kostüme entworfen. Peter Mumford sorgt für die stimmungsvolle Beleuchtung.

Alles in allem widerlegt diese Produktion gleich zwei Klischees: Erstens, dass Massenets Oper dramatisch unwirksam ist. Und zweitens, dass traditionelle Inszenierungen zwangsläufig langweilig sein müssen. Eyre arbeitet mit einer ausgefeilten Personenführung. Jede Figur hat eine deutlich erkennbare Persönlichkeit. Wo die Protagonisten Ruhe brauchen, da arbeitet er ohne großes Aufsehen mit Statisten wie Kindern oder Stadtbewohnern. Im dritten und vierten Akt fokussiert er sich dann ganz auf die großen Auseinandersetzungen zwischen Charlotte und Werther. Ein bisschen übertrieben ist der blutige Effekt, den Werthers anscheinend glatter Durchschuss durch die Brust auf der Rückwand seiner grauen Kammer hinterlässt.

Bei einem derartigen Blutverlust erscheint ein fünfzehnminütiger Bühnentod im gesungenen Pianissimo doch etwas übertrieben. Aber kaum einer stirbt halt so schön wie Jonas Kaufmann. Die Kamera macht es ihm nicht unbedingt leichter, da er so sterben muss, dass das Publikum in den hintersten Reihen daran teilhaben kann und nicht die nahe Kamera. Insgesamt kann man aber bei dieser Übertragung endlich eine Verbesserung im sonst so hektischen Bildschnitt von Gary Halvorson erkennen. Dass Jonas Kaufmann optisch ein idealer Werther ist, überrascht nicht. Aber auch stimmlich holt Kaufmann seine Hörer ab. Sieht man von manch gestemmter Höhe ab, ist sein Werther erfüllt von düsterer Eleganz und beklemmender Melancholie. Die kongeniale Sophie Koch bewahrt als Charlotte so lange wie möglich ihre Fassung. Doch im dritten Akt ist sie mitgerissen von ihren Gefühlen. Dass man der Koch bei ihrem Met- und Kino-Übertragungs-Debüt noch eine gewisse Nervosität anmerkt, macht ihren Einsatz auf der Bühne noch glaubwürdiger. Mit diesen beiden Sängern, die als tragisches Paar ihre Seelen ausschütten, kann man mitfühlen. Das ist Oper zum Anfassen.

Auch die übrige Besetzung sind Charaktere, die aus dem Leben gegriffen sind: Die beiden gut gelaunten „Kumpeltypen“ mit Hang zum übermäßigen Alkoholkonsum, Johann und Schmidt, werden von Philip Cokorinos und Tony Stevenson mit Elan dargestellt. Jonathan Summers Amtmann ist gezeichnet vom Tode seiner Frau und unterrichtet wehmütig die Kinder in Weihnachtsliedern. Der stark aufsingende David Bižic entwickelt sich vom netten, handfesten Albert zu einem verbitterten Ehemann. Die Sophie von Lisette Oropesa ist eine sympathische Bühnenerscheinung mit einem schlanken, silbrigen Sopran. Doch die Seele dieser Aufführung liegt im Orchestergraben. Mittlerweile hat man das Orchester der Met ja schon in jeder Abendform erleben können, doch was Alain Altinoglu und die Musiker aus diesem Werther an Farben und lyrischen Bögen, an depressiven Seufzern herauszaubern, besitzt eine Intensität, die unter die Haut geht. Wie feine Tränenschleier sind die zärtlichsten Momente, wie das brutale Wecken aus schönstem Traume die brutalen Attacken im Fortissimo. Dankbar registriert man jede heitere Regung in der melancholischen Stimmung, die diese Oper wie ein Leitfaden durchzieht.

Die Aufführung zeigt in Münster Wirkung: Vor der Aufführung wirken einige Zuschauer recht unentspannt, motzen rum, weil ihnen Leute, die ihre Plätze suchen, im Bild stehen – dabei hat die Aufführung noch gar nicht begonnen. Nachbarn werden aufgefordert, die Handys auszuschalten, weil das Klingeln ja stören könnte. Man selber quatscht aber ungeniert in die Musik rein. Doch nach und nach legt sich tiefe Aufmerksamkeit, teilweise auch große Betroffenheit über den Saal. Am Schluss gibt es nicht nur zwei, drei Zuschauer, die am Ende klatschen. Man hört richtigen Applaus im Kino. Natürlich kein Vergleich zu New York, wo sich ein wahrer Begeisterungssturm über alle Beteiligten und besonders über Jonas Kaufmann und das Orchester ergießt. Eine Oper und eine Aufführung, die die Zuschauer in ihren Bann zieht.

Christoph Broermann







Fotos: Ken Howard