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Fakten zur Aufführung 

TIMESHIFT ... ODER DIE ZEIT IST EIN VOGEL
(Søren Eichberg, Niels Klein, Vassos Nicolaou, Steingrimur Rohloff)
4. Dezember 2011
(Uraufführung)

Städtische Bühnen Münster

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Die absolute Zeit suchen

Der Weg von der Projektidee zu dieser Aufführung ist lang. Das Stadttheater Münster stellt sein Großes Haus für ein Projekt zur Verfügung, in dem junge Künstler ihre Visionen zu einem neuen Musiktheater auf die Bühne bringen – mit erfreulichem Erfolg. Von einer Fachjury ausgewählt, entwickeln Susanne Blumenthal als Dirigentin, Recha la Dous als Regisseurin und Kerstin Ergenzinger, Bildende Künstlerin, Grundlinien eines experimentellen Musiktheaters, zu dem sie sich von den vier Komponisten Sören Nils Eichberg, Niels Klein, Vassos Nicolaou und Steingrimur Rohloff die Musik komponieren lassen. Es gibt keine Handlung,  keine klar definierten, wiederkehrenden Rollen. Recha la Dous geht es  um  die „eigene Reflexion über die Zeit“, die bewährte Rezeptionsmuster öffnen soll. Die vier Komponisten, von unterschiedlichen Genres und Stilrichtungen kommend, fügen orchestrale Elemente, Chor- und Solopartien, elektroakustische Klänge und Jazz zu einem wahrhaft bunten, teils unterhaltsamen, teils kühlen Klanggebilde zusammen, das unterschiedlichste Merkmale trägt und Stimmungen kreiert. Videoinstallationen bis in den Zuschauerraum hinein erweitern den Bühnenraum ebenso wie die Verteilung unterschiedlicher Musik- und Klangpositionen. Neben den Solo- und Chorbeiträgen wirken das Sinfonieorchester Münster und ein Jazztrio unter Leitung von Niels Klein mit und geben der Aufführung eine manchmal schwer zu überblickende Vielfalt von akustischen und optischen Eindrücken.

Doch ist diese Vielfalt der Aufführung gewollt, sie wird noch erweitert durch die Videoinstallationen, die auf einem Leinwandrund den Bühnenraum abschließen, durch ein über den Zuschauern aufgehängtes, mehrfach geknicktes Paravent über die Bühne hinaus reichen.  Auch einige Podeste im Zuschauerraum sowie die Platzierung der Jazzband lassen den „Vogel Zeit“ in den Zuschauerraum hinein fliegen und machen den Zuschauer zum Mitagenten im Phänomen „Zeit“.

Die den Solopartien zugrunde liegenden Texte, nur selten verständlich, nehmen den Zuschauer mit auf eine Zeitreise, deren Anfang und Ziel verborgen bleiben. Das karge Bühnenbild, eigentlich beherrscht von den Videoprojektionen und einigen Schattenspielen, und die künstlichen Fantasiekostüme der Figuren, schicken den Betrachter auf eine Reise durch verschiedene Epochen und Kulturräume, ein Ziel gibt es nicht, die Zeit läuft…

Für die Videoinstallationen wurden Innenelemente des Münsterschen Theater aufgenommen und mehrfach verfremdet, z.B. die niedlichen Deckenlampen des Zuschauerraumes oder Unterwasseraufnahmen der bekannten, sich ständig wandelnden Farbschlieren hinzugefügt. Bezüge zum Text, zur Musik oder dem Bühnenbild, auch zwischen den Projektionen untereinander sind kaum auszumachen.

Die vier Protagonisten spielen keine Rollen, sie sind fast beliebig versetzbare Figuren, gespiegelt, in Schatten verdoppelt, verfremdet, selten verständlich. An ihre Gesangsqualitäten werden große Anforderungen gestellt, selten können sie eine Melodiephrase präsentieren. Gleichwohl überzeugen Christine Gram mit einem hellen Sopran, Lucie Ceralova mit schöner Altstimme, Youn-Seong Shim als Tenor und Matteo Suk mit einem fast harten Bariton. Sie reihen sich mit ihren Stimmäußerungen in das Murmeln und Flüstern des Chores ein. Sie alle meistern in bewundernswerter Disziplin die tonalen Anforderungen, die Susanne Blumenthal als Dirigentin erfahren und mit großer Übersicht zusammen fügt.

Bleibt die Frage nach der Zeit als Vogel. In sechs Szenen gehen die Komponisten diesem Element nach, von der „Ereignislosigkeit“ der ersten Szene bis zur „absoluten Zeit“ der sechsten Szene. Abstrakte Video- und Jazzelemente trennen sie einzelnen Szenen von einander.

Der musik- und regietheoretische Aufwand, mit dem die Regisseurin Recha la Dous ihre Inszenierung und den Platz der Musik darin beschreibt, ist eher Belastung als Erhellung. Der Rückgriff auf Alan Lightmans Kurzgeschichten über verschiedene Zeituniversen und Assoziationen zu Einsteins Relativitätstheorie wirken angestrengt. Die Autoren muten den Zuschauern zu, aufgrund der stets vorhandenen Individualperspektiven „nicht alle dasselbe Stück sehen“ zu können. Kein Zweifel, dieses Experiment ist keine leichte Kost. Gleichwohl ist es der Aufführung gelungen, dem Publikum ein letztlich farbenfrohes, sehr perspektivreiches, im Grundgestus helles und heiteres Experiment vorzuführen. Die Zuschauer bedanken sich mit herzlichem, froh gestimmtem Beifall, der besonders die Stimmleistungen der 4 Solisten noch einmal heraushebt.

Die Forderung des „Fonds Experimentelles Musiktheater“, wonach sich solche Experimente gegenüber dem „klassischen“ Theaterpublikum bewähren müssen, hat diese Aufführung in Münster zweifellos bestanden, - ob ein Publikum allerdings in zehn oder zwanzig Jahren daran noch Gefallen findet, ist – wegen des „timeshift“ - eine offene Frage.

Horst Dichanz