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Fakten zur Aufführung 

DER DICHTER ALS BOXER
(Kheireddine Lardjam/Larbi Bestam)
22. November 2013
(Gastspiel)

Theater an der Ruhr, Mülheim


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Zwischen zwei Welten

Eine karge Bühne: zwei Stühle, ein Tisch, auf dem ein Stapel Bücher steht, zwei Glühbirnen, die von der Decke hängen. Das mag das Interieur eines existentialistischen Theaterstücks sein, etwa von Albert Camus. Der berühmteste Sohn der algerischen Stadt Oran wäre in diesem Jahr 100 geworden. Doch dieses Gedankenspiel reflektiert nur den eurozentrischen Blick, der seine Bestätigung darin findet, dass Camus’ komplettes Œuvre – seine Erzählungen, Romane, Dramen und Essays – ohne Probleme in deutscher Übersetzung vorliegt. Von Kateb Yacine findet man hierzulande nur den Roman Nedjma.

Eine Möglichkeit zur Annäherung an Yacine bietet den Besuchern des Theaters an der Ruhr in Mülheim das Stück Der Dichter als Boxer, das Kheireddine Lardjam für die Compagnie el Ajouad geschrieben hat. Als Textbasis dienten Lardjam Statements Yacines aus Interviews, die der Schriftsteller zwischen 1954 und 1989 gegeben hat. Die verwendeten Textstellen wurden zu einer Collage zusammengestellt, die von Azeddine Benamara szenisch vorgetragen werden, während Larbi Bestam dazu maghrebische Musik spielt und singt.

Es ist das Aufeinandertreffen zweier Welten, die dem Publikum Einblicke in die algerische Lebenswirklichkeit gewähren: der arabisch-berberischen und der europäisch-französischen. Yacine war mit der arabischen Sprache groß geworden, kam in eine französische Schule und schrieb schließlich auf Französisch. 1945 wurde er in seinem Heimatland verhaftet, nachdem er an einer Demonstration teilgenommen hatte, bei der die französischen Kolonialherren ein Massaker an den algerischen Demonstranten verursacht hatten. In der Folgezeit wechselte Yacine mehrfach seinen Wohnsitz, lebte in Paris, ging nach Italien, kehrte nach Algerien zurück. Gestorben ist er schließlich in La Tronche, einem Vorort von Grenoble.

Der Dichter als Boxer zeigt nicht etwa ein Aufbegehren gegen das Französische. Das Französische gehört wie das Arabische und das Berberische zum Wesen Algeriens, das sich nicht auseinanderdividieren lässt. Darin folgt das Stück Yacines Einstellung, sowohl einem arabisch-nationalistischen als auch einem fundamentalistisch-islamistischen Algerien eine Absage zu erteilen. Folgerichtig trägt Azeddine Benamara die Texte französisch vor, während Larbi Bestam arabisch singt und auf traditionellen maghrebischen Instrumenten spielt. Das ist nicht nur von einem ästhetisch großen Reiz, sondern besitzt eine unglaublich suggestive Kraft.

In Kheireddine Lardjams Inszenierung liegt der Fokus auf dem Wesentlichen: Darsteller und Musiker. Die karge Bühne erlaubt Raum für rasche Ortswechsel. Azeddine Benamaras lebendige Darstellung des Protagonisten bietet rasch Anknüpfungspunkte für das Publikum, sich mit diesem und der Situation Yacines, ja aller algerischen Freigeister des 20. Jahrhunderts – gefangen zwischen den Repressionen während der Kolonialzeit und denen der Politik im postkolonialistischen Algerien – zu identifizieren.

Das Publikum weiß diesen spannenden Theaterabend zu würdigen und spendet verdienten Applaus. Ärgerlich aber ist, dass während der laufenden Vorstellung einige Zuschauer miteinander reden. Auch Taschen werden hörbar geöffnet oder Mobiltelefone gezückt – das ist respektlos gegenüber den Darstellern und dem größten Teil des Publikums, das die Vorstellung gebannt verfolgt.

Im Anschluss an das rund 70-minütige Stück folgt im Foyer des Theaters ein Konzert der Gruppe El Ferda, deren Kopf Larbi Bestam ist. Dass das rund zur Hälfte aus Algeriern bestehende Publikum hier mitgeht, auch einen Wechselgesang mit den Musikern anstimmt, krönt einen für europäische Augen und Ohren ungewöhnlichen, in jedem Fall spannenden und schönen Theaterabend, der Lust auf eine Auseinandersetzung mit der Kultur Nordafrikas – jenseits des Mantras vom sogenannten „Krieg gegen den Terror“ und unserer Vorurteile vom Orient – macht.

Sascha Ruczinski

Fotos: Theater an der Ruhr