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Fakten zur Aufführung 

BORIS GODUNOW
(Modest Mussorgsky)
13. Februar 2013
(Premiere)

Bayerische Staatsoper München


Points of Honor                      

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Volk und Herrscher leiden in der Krise

Die selten gespielte Urfassung des Boris Godunow, in der der Komponist mit den damals gängigen romantischen Opernkonventionen bricht, kommt dem scheidenden Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper sehr entgegen. Kent Nagano, der stets analytisch ausleuchtende Dirigent, wählt ganz bewusst das kantige Werk mit starken Brüchen, in dem Mussorgsky sich radikal dem Text Puschkins und der darin enthaltenen Parabel vom Schuld beladenen Herrscher widmet. Einen Schwerpunkt bildet die Rolle des unterdrückten, manipulierbaren, leidenden Volkes.

Doch im Gegensatz zu den mächtigen Chorszenen, die das orientierungslose Volk in akustisch beeindruckender Gewalt portraitieren, stehen in dieser Urfassung die intimen Einblicke in die Gedanken und Seelenqualen des Zaren Boris im Vordergrund. Diese gewährt Mussorgsky in kammerspielartigen Dialogen mit seinen Kindern und Monologen über seine Zweifel. Auch dem Ränkeschmieden seiner Gegenspieler, den Erzählungen des Mönchs Pimen, gibt Mussorgsky kaum extrovertierte Klänge. Dramaturgisch stellen diese Bilderfolgen eine große Herausforderung dar, denn ein kontinuierlicher Spannungsbogen lässt sich darin schwer aufbauen.

So beginnt dann der in knapp zweieinhalb Stunden ohne Pause dargebotene Münchner Boris äußerst mitreißend in den beeindruckenden Massenszenen, um dann doch ab der Mitte des Stückes abzuflauen: Nagano entwickelt mit dem äußerst akkurat spielenden Staatsorchester aus den schwebenden Klängen des folkloristisch angehauchten Materials innerhalb der ersten Bilder grandios den sich orgiastisch aufbäumenden Klangdom der Krönungsszene, um dann den Faden in der meditativen Stimmung der Erzählung des Pimen etwas zu verlieren. Anatoli Kotscherga mimt diesen als Parkinson kranken Intellektuellen, der den jungen Journalisten Grigorij Otrepjew anhand seiner gesammelten Zeitungsausschnitte auf die Spur des getöteten Zarewitsch Dimitrij bringt. Der textlastige Kompositionsstil verleitet Nagano hier zum zurückgenommenen Begleiten, was den Sängern sehr zugute kommt, aber gelegentlich hätte man sich ein paar mehr Impulse gewünscht.

Das große Solistenensemble ist bis in die kleinste Partie hervorragend besetzt, wobei das Debüt des jungen Alexander Tsymbalyuk in der Titelpartie als absoluter Glücksfall zu werten ist. Stimmlich durchgängig überzeugend und darstellerisch absolut ausdrucksstark in allen psychologischen Tiefen der zerrissenen Figur, ist der 36-Jährige eine Idealbesetzung in dieser außergewöhnlichen Produktion. Mit Gerhard Siegel als Bojarenfürst Schuiskij und Sergey Skorokhodov als Grigorij Otrepjew stehen dem strahlkräftigen Bassisten ein heldisch schneidender und ein lyrisch aufbegehrender Tenor gegenüber. Beide sägen letzlich erfolgreich an seinem Oligarchen-Thron. Die Frauenstimmen sind in diesem Werk klar in der Unterzahl, haben wenig zu singen, doch geben Eri Nakamura als trauernde Tochter Xenia, Yulia Sokolik als Fjodor und Okka van der Damerau als Schenkwirtin und auch Heike Grötzinger als Amme genau fokussierte Momentaufnahmen ihrer Figuren. Der Auftritt von Kevin Conners als von den Kindern misshandelter und am Ende exekutierter Gottesnarr, gerät ebenfalls zum eindringlichen und beklemmenden Paradestück.

Großen Anteil an diesem Gelingen hat somit der Regisseur Calixto Bieito, der alle folkloristischen, historisierenden und spezifisch russischen Elemente des Werkes ignoriert und den Inhalt auf die Krisen gebeutelte Realität umdeutet. Die von prügelnden Polizeitrupps in Schach gehaltenen Demonstranten halten anstelle von Ikonen kalt lächelnde Politiker-Portraits in die Höhe. Die Kirche spielt ganz im Gegensatz zum Originaltext bei Bieito keine große Rolle im Machtkampf. Zum Glockenklang aus dem Orchestergraben lässt er die Polizisten mit den Schlagstöcken an den Absperrgittern mitspielen.

Rebecca Ringst hat eine ausdrucksstarke und wandelbare Bühne entworfen, deren Zentrum ein gepanzerter Bunker, der auch Brücke eines Kriegsschiffes sein könnte, darstellt. Im Innern befindet sich ein schwarz-goldener Luxuskäfig, in dem Familie Godunow wohnt. Hier spielt Boris in einem ausgelassenen Moment mit seinem Sohn „Weltkugel-Ballwerfen“ und versucht, die unglückliche Tochter zu trösten. Die korrupten Bojaren lassen sich hier mit Geldscheinbündeln schmieren und sehen dem langsamen Sterben des gequälten Boris ungerührt zu. Üppige Trockeneisnebel hüllen das düstere Szenario über den gesamten Abend ein.

Das Publikum bleibt nach anfänglicher Irritation über die pausenlose, durchinszenierte Darbietung, die leider keine Gelegenheit zum Applaus oder einen Gedankenaustausch über das Gesehene zulässt, bis zuletzt gebannt bei der Sache. Hier wäre die Entscheidung für eine Pause durchaus vorteilhaft gewesen. Die packenden Szenen und die komplexe musikalische Darbietung hätten eine bessere Konzentrationsfähigkeit verdient. Stattdessen ist man am Ende etwas erschlagen, und es braucht einige Minuten, um der beachtlichen ganzheitlichen Leistung aller Beteiligten letztendlich einhellig Beifall zu spenden.

Ingrid Franz





Fotos: Wilfried Hösl